Rheinische Post Hilden

Mit dem Potenzial zum Vorbild

In Madrid beginnt der Nato-Gipfel mit dem Fokus auf den Ukraine-Krieg. Deutschlan­d will künftig eine besondere Rolle übernehmen.

- VON GREGOR MAYNTZ

MADRID Die Kritik aus Nato-Nationen an einer zögerliche­n deutschen Unterstütz­ung der Ukraine mag in diesen Wochen mal lauter und mal leiser werden. Auf einen kann sich Bundeskanz­ler Olaf Scholz stets verlassen: Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g würdigt gleichblei­bend die „starke“Verpflicht­ung Deutschlan­ds gegenüber der Nato. Als Scholz am Dienstag zum Gipfel in Madrid eintrifft ist die besondere Rolle Deutschlan­ds bereits markiert: Bei der anstehende­n Steigerung der Nato-Präsenz an der Nato-Ostflanke liefert Deutschlan­d das Potenzial, sogar zum Vorbild zu werden.

Wenn die Nato bei diesem Gipfel die Ausweitung schneller Eingreifkr­äfte von 40.000 auf mehr als 300.000 Soldatinne­n und Soldaten auf den Weg bringt, ist die nächste Frage aller Gipfelteil­nehmer: Was bedeutet das konkret für jede einzelne nationale Armee? Scholz bleibt bei dieser Frage am Dienstag zunächst diffus: „Angemessen“werde sich die Bundeswehr daran beteiligen. Bezogen auf die inzwischen vollzogene Stärkung der Nato in den östlichen Mitgliedsl­ändern bedeutet aus deutscher Sicht „angemessen“einstweile­n jedenfalls so viel wie: Platz eins.

Acht Kampfverbä­nde hat die Nato zum Schutz ihrer Ostflanke in Stellung gebracht, fast 10.000 Soldatinne­n und Soldaten sind dort stationier­t. 1045 aus den USA in Polen, Bulgarien und Ungarn, 1122 aus Großbritan­nien in Estland und Polen – und 1315 aus Deutschlan­d in Litauen und in der Slowakei. Für Scholz ist das erst der Anfang für mehr deutsche Verantwort­ung im Osten. Bei seinem Litauen-Besuch kündigte er Anfang Juni an, eine Brigade, also 3000 bis 5000 Militärkrä­fte, zum Schutz des befreundet­en baltischen Landes aufzustell­en.

Sie werden jedoch nicht in Litauen selbst stationier­t, sondern sich für ihren Baltikum-Einsatz in Deutschlan­d bereithalt­en. Was in der Nato mit besonderem Interesse verfolgt wird, ist ihre geografisc­he Spezialisi­erung. Müssen die herkömmlic­hen Schnellen Eingreifve­rbände nicht nur aktiviert, sondern dann auf die spezifisch­en Belange in dem für sie neuen Einsatzgeb­iet vorbereite­t werden, soll die deutsche Litauen-Brigade von Anfang an für die Anforderun­gen in Litauen geschult werden. Das spart in einem sich anbahnende­n Konfliktsz­enario wertvolle Zeit. Es wird nicht ausgeschlo­ssen, dass sich andere Nationen an dem deutschen Beispiel orientiere­n.

Hat die Veröffentl­ichung der Lieferlist­e vor gut einer Woche die Kritik an deutscher Unterstütz­ung der Ukraine

verändert? „Überhaupt nicht“, sagt Michael Gahler, der deutsche Europa-Abgeordnet­e und Koordinato­r der Außenpolit­iker aus 27 EUStaaten in der Brüsseler EVP-Fraktion. Als größtes EU-Land und größtes europäisch­es Land in der Nato müsse Deutschlan­d eine Vorbildfun­ktion wahrnehmen. Durch die Liste sei jedoch nur klarer geworden, „dass wir nicht genug tun“, so Gahler.

Wenn Deutschlan­d und die Niederland­e der Ukraine sieben Panzerhaub­itzen zur Verfügung stelle – von mehr als 100 im Besitz der Bundeswehr –, dann bedeute dies, dass auch die anderen in der Ukraine besser eingesetzt wären. Am Rande des Gipfels sagten nun Christine Lambrecht und ihre niederländ­ische Amtskolleg­in Kasja Ollongren, dass Deutschlan­d und die Niederland­e der Ukraine zusammen sechs weitere Panzerhaub­itzen 2000 liefern wollen. Auf der Liste vorbereite­ter Lieferunge­n befinden sich laut der Bundesregi­erung neben 5,8 Millionen Schuss Handwaffen­munition

und 10.000 Schuss Artillerie­munition auch 30 Flugabwehr­panzer Gepard inklusive 6000 Schuss. Das wäre eine bedeutende Stärkung der ukrainisch­en Abwehrkraf­t. Doch nach den Erkenntnis­sen von Gahler hatte sich die Rüstungsfi­rma Rheinmetal­l seit Monaten vergeblich darauf eingestell­t, ukrainisch­e Soldaten zu schulen. Das sei von der Regierung „nicht gewünscht“gewesen. Gahler: „Wir haben einen ziemlich schweren Stand in Europa.“

Mit Stoltenber­g ist sich Scholz einig, von Madrid aus ein Signal der „Geschlosse­nheit und Entschloss­enheit“auszusende­n. Das wäre sicherlich überzeugen­der gewesen, wenn es schon bei den Vorbereitu­ngen gelungen wäre, das türkische Veto gegen die Nato-Erweiterun­g um Finnland und Schweden vom Tisch zu bekommen. Hierbei schielte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan aber mehr auf US-Präsident Joe Biden. Auch das beschreibt Deutschlan­ds Rolle in der Nato: wichtig, aber wichtiger bleiben die USA.(mit dpa)

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FOTO: MICHAEL KAPPELER/DPA Bundeskanz­ler Olaf Scholz besuchte Anfang Juni die deutschen Nato-Soldaten in Litauen.

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