„Auch ein deutsches Team kann Euphorie auslösen“
Der Leiter vom Rad-Team Bora-hansgrohe spricht über die Corona-Lage, die Ziele bei der Tour de France, geliehene Camper und Rafael Nadal.
RALPH DENK
Herr Denk, ganz aktuell erlebt der Radsport wieder vermehrt CoronaFälle. Inwiefern beunruhigt Sie das für Tour de France?
RALPH DENK Unsere Standards sind da generell sehr hoch. Wir tun alles, was möglich ist, um das Team so gut als möglich zu schützen. Unsere Fahrer sind sehr diszipliniert – da muss ich nicht mehr groß erwähnen, dass sie kurz vor der Tour de France jetzt nicht auf einen Geburtstag mit 100 Gästen gehen. Aber ein Restrisiko bleibt. Bei uns waren Fahrer wie Aleksandr Vlasov oder Maximilian Schachmann bei oder nach der Tour de Suisse Mitte Juni infiziert. Das ist natürlich alles andere als optimal, weil die direkte Vorbereitung betroffen ist. Auch wenn die Verläufe sehr mild waren, heißt es erst einmal Pause machen. Man verliert also einige wichtige Trainingstage.
Ende Mai holte Ihr Team durch jai Hindley den Gesamtsieg beim Giro d’Italia. Vorausgegangen war im Winter ein radikaler Umbruch in der sportlichen Führung und im Kader – unter anderem ließen Sie ihr jahrelanges Aushängeschild Peter Sagan ziehen. Nun müssen Sie sich wie jemand fühlen, der alles richtiggemacht hat.
DENK Natürlich fühlt es sich gut an, wenn man Veränderungen vornimmt und diese im Nachgang Erfolg bringen. Ich würde mich selbst als mutigen Menschen bezeichnen und grundsätzlich waren die personellen Änderungen auch meine Idee. Ich habe als erstes die Sponsoren mit ins Boot geholt – und nicht alle haben im ersten Moment verstanden, warum wir nicht mit Peter Sagan weiterarbeiten wollten. Am Ende haben sie mir aber das Vertrauen bei dieser Entscheidung geschenkt.
Warum waren die Veränderungen im Team notwendig?
DENK Am Ende bin ich dafür verantwortlich, dass die Sponsoren, die viele Millionen ins Team investieren, ihre Reichweiten erhalten. Und faktisch ist es so, dass eine dreiwöchige Landesrundfahrt deutlich mehr Reichweite bietet als irgendwelche Sprint- oder Klassikersiege. Daher habe ich gesagt: Wir konzentrieren uns mehr auf großen Landesrundfahrten. Denn in der normalen Bevölkerung, sofern es keine Radsportfans sind, ist der Giro d’Italia viel bekannter als beispielsweise die Klassiker Mailand-Sanremo oder Lüttich-Bastogne-Lüttich. Wir sind Peter Sagan sehr dankbar für die gemeinsamen Erfolge. Man sollte aber nicht an irgendetwas festhalten, wenn man nur noch 99 statt 100 Prozent davon überzeugt ist.
Wie war Ihr Eindruck: Wie ist der Gesamtsieg beim Giro in Deutschland wahrgenommen worden? DENK Ich war positiv erstaunt. Deutschland hat den Fokus ja immer sehr stark auf die deutschen Fahrer, aber so langsam werden wir immer mehr als Team zur Identifikationsfigur. Das zeigt, dass unser Weg richtig ist. Man stelle sich vor, das wäre nicht der Giro d‘Italia, sondern die Tour gewesen. Dann hätten wir vielleicht einen Ausnahmezustand wie 1997 gehabt, als Jan Ullrich die Tour gewann. Es wäre cool, wenn wir das irgendwann wieder hinbekommen würden.
Aber braucht es dafür nicht einen deutschen Fahrer als Sieger?
DENK Die Kombination aus deutschem Team und einem deutschen Fahrer ist natürlich das Optimum. Aber ich glaube, ein deutsches Team, in dem dann deutsche Fahrer dabei sind, kann am Ende eine ähnliche Euphorie auslösen – auch wenn ein ausländischer Fahrer gewinnt.
Der Gesamtsieg beim Giro d’Italia ist der bislang größte Sieg Ihrer Teamgeschichte. Was hat das auch persönlich bei Ihnen ausgelöst?
DENK Beim Giro war es etwas Spezielles. Vor zehn Jahren haben wir dort unser Debüt bei einer dreiwöchigen Landesrundfahrt gegeben. Damals haben wir eine Einladung bekommen und die ganze Radsportwelt war darüber erstaunt – weil sportlich waren wir nicht so gut. Ich hatte aber zugleich riesen Bammel, ob wir das Rennen finanziell gestemmt bekommen. Kein Witz: Wir haben uns dann einen Camper besorgt, weil wir selbst kein passendes Fahrzeug hatten, und haben uns bei unserem regionalen Autohaus einige Autos ausgeliehen. Damit sind wir dann zum Giro gefahren. Und zehn Jahre später gewinnen wir das Rennen.
Nach dem Giro-Sieg ist nun der Erfolg bei der Tour de France das nächste Ziel?
DENK Der Tour-Sieg ist ein Ziel für mich, das habe ich immer gesagt. Da müssen wir aber noch abwarten. Zwei Dinge sind entscheidend: Zum einen müssen wir Talente finden – und diese auch halten. Außerdem müssen wir die nötigen wirtschaftlichen Mittel haben. In der Hinsicht gehören wir zur oberen Hälfte der Radsportteams. Aber es gibt trotzdem Mannschaften, die über deutlich mehr Budget verfügen wie beispielsweise Ineos oder UAE. Daher müssen wir schauen, dass wir diese Lücke so klein wie möglich halten.
Wer sind in diesem Jahr die Favoriten auf den Tour-Gesamtsieg?
DENK Der Favorit ist Tadej Pogacar. Er hat die vergangenen beiden Jahre gewonnen, er ist jung und einfach ein beeindruckender Fahrer. Die TourOrganisatoren haben aber in diesem Jahr viele Fallen in die Route eingebaut, unter anderem die windanfälligen Etappen in der ersten Woche und das Teilstück über Kopfsteinpflaster.
Auf diesem Terrain kann auch Pogacar stolpern. Dann müssen die Konkurrenten bereit sein. Im Hochgebirge kann man ihn kaum angreifen. Dort ist er zu dominant.
Welche Rolle sehen Sie für Ihr Team? DENK Wir wollen in jedem Fall ein attraktives Rennen fahren. Also uns nicht verstecken und vielleicht auch mal mit einer Aktion überraschen, wie wir das auch beim Giro gemacht haben. Wir wollen mit Aleksandr Vlasov unter die ersten Fünf in der Gesamtwertung – und wenn alles perfekt läuft, auch das Podium angreifen. Und wir werden auf Etappenjagd gehen.
Welche Freiheiten bekommen die deutschen Fahrer Nils Politt, Maximilian Schachmann und Lennard Kämna?
DENK Nils liegen sicherlich die ersten Etappen im Norden, sollte es Windkante geben. Und dann auf jeden Fall die fünfte Etappe nach Arenberg über Kopfsteinpflaster. Allerdings müssen wir dort eine gute Balance finden, denn es gilt auch, unsere Bergfahrer sicher ins Ziel zu bringen. Für Max und Lenni gibt es dann sicher
Chancen, wenn wir die ersten Berge erreichen oder auf den hügeligen Etappen. Gegen Ende der Tour gibt es dann auch typische Überführungsetappen (Etappen zwischen zwei schwierigen Bergetappen, Anm. d. Red.), bei denen Ausreißergruppen erfahrungsgemäß gute Chancen auf den Tagessieg haben – dann können alle drei eine Rolle spielen.
Emanuel Buchmann ist wie geplant bei dieser Tour nicht dabei. Nach zwei Jahren mit viel Pech ist er nun Siebter beim Giro d’Italia geworden. Allerdings etwas im Schatten von Sieger Hindley. Buchmann ist bald 30 Jahre, angesichts der gestiegenen Konkurrenz im Team: Wie geht es für ihn weiter?
DENK Das ist eine berechtigte Frage. Wir sind nun als Teamführung gefragt, welche Rolle Buchmann künftig einnimmt. Setzen wir ihn als wertvollen Helfer ein oder bekommt er noch einmal die Chance als Kapitän? Das sind Fragen, die wir intern in den kommenden Wochen besprechen, damit wie einen klaren Plan für ihn haben. Wer allerdings Siebter beim Giro d‘Italia wird, der verfügt schon über ein gewaltiges Potenzial.
Zum Abschluss ein Themensprung: Rafael Nadal hat vor einem Monat unter starken Einsatz von schmerzstillenden Spritzen die French Open gewonnen. Der Einsatz war legitim, wurde größtenteils aber unkritisch begleitet. Unter französischen Radprofis kam die Debatte auf, ob das bei einem Radsportler genauso gewesen wäre. Wie ist Ihre Meinung? DENK Es wird mit zweierlei Maß gemessen: Der Radsport und die restliche Sportwelt. Der Radsport hat beim Thema Doping die schlechteste Historie – das ist Fakt. Das können wir nicht mehr rückgängig machen. Der Radsport hat inzwischen aber ein Regelwerk etabliert, das in der Sportwelt eigentlich seines Gleichen sucht. Jeder redet vom sauberen Sport – warum adaptieren dann andere Sportarten nicht unser System? Ob der Radsport nun zu hundert Prozent sauber ist, das will ich nicht behaupten. Der Radsport tut meines Erachtens nach aber im Vergleich zu anderen Sportarten am meisten, um den Sport fair zu gestalten. Wo ist die „No-Needle-Politik“, die es im Radsport gibt, im Fußball oder im Tennis? Wir dürfen Nadeln und Spritzen nur im absoluten Notfall einsetzen. Ich würde mir wünschen, dass es ein gleiches Regelwerk für den gesamten Sport geben würde.
DAS GESPRÄCH FÜHRTE DANIEL BRICKWEDDE