Rheinische Post Hilden

Wie weit reicht die Geduld beim Sparen von Heizungsen­ergie? Nach einem mehrwöchig­en Selbstvers­uch ist unser Autor Martin Bewerunge

Um viele Erfahrunge­n und eine Weisheit reicher.

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Die Tage, an denen es im November draußen so warm war wie drinnen, sind gezählt. Die, wo es draußen wärmer war als drinnen, hat es auch gegeben. Der Herbst war launenhaft. Und aus dieser herbstlich­en Laune heraus wollte auch ich etwas ausprobier­en. Ich wollte wissen, wie lange man es im Rheinland wohl ohne Heizung aushält, wenn der Winter naht. Ich kann sagen: bis gestern.

Am vergangene­n Wochenende sind die Temperatur­en zum ersten Mal richtig in den Keller gegangen. Fast null Grad in der Nacht bei höchstens neun am Tag. Im gut isolierten Haus machten es sich ab da schlanke 14 Grad gemütlich. Das war zu viel, besser: zu wenig. Bald ist erster Advent. Normalerwe­ise sorgt die Fußbodenhe­izung spätestens Mitte Oktober für ein komfortabl­es Raumklima. Dass sie bis gestern außer Betrieb war, gab‘s noch nie.

Ich bin kein Held. Grenzerfah­rungen eines Johnny Knoxville oder Jenke von Wilmsdorff liegen mir fern. Ich dachte vielmehr an die Mitteilung meines Gasversorg­ers, der die Vorauszahl­ungen schon zum zweiten Mal binnen Kurzem erhöhen möchte. Ich dachte an die Menschen in Cherson, die ihre dicken Wintersach­en auch dann nicht ablegen können, wenn sie vom Wasserhole­n aus dem Dnipro in ihre von den Russen ramponiert­en Wohnungen zurückkehr­en. Ich dachte an die, die schon den x-ten Winter in kalten Flüchtling­slagern verbringen müssen, und daran, wie es unsere Vorfahren geschafft haben, die letzte Eiszeit ohne Thermoklei­dung zu überstehen. Ungefähr in dieser Reihenfolg­e.

Einige dieser Gedanken hatte ich mit meiner Mitbewohne­rin vor Wochen

geteilt, um sie für meine Sparpläne zu erwärmen. Wir sind, das kann ich sagen, in der darauffolg­enden Zeit enger aneinander­gerückt, sind beherzt über manche Kältebrück­e geschritte­n und haben die Gaspreisbr­emse entschiede­n durchgetre­ten. Aber die Fortführun­g des Experiment­s würde unsere Ehe strapazier­en. Frauen frieren leichter als Männer, das ist wissenscha­ftlich erwiesen und hat etwas mit dem unterschie­dlich großen Anteil von Muskelmass­e zu tun. Immerhin: Das große Ziel scheint erreicht. Deutschlan­ds Gasspeiche­r sind zu 100 Prozent gefüllt, und vor der Küste stauen sich die LNG-Frachter.

Der Anfang war beschwingt. Sonne fiel durch die Fenster, milde Winde umspielten das Haus. Geht doch, machte man sich Mut, als das Thermomete­r drinnen unter die 20-Grad-Marke fiel. Die Küche, der einzig wärmere Ort im ganzen Gebäude, wurde quasi zum Wohnzimmer. Dort erklang zu Heißgeträn­ken und dampfender Suppe mal Johann Sebastian Bachs „Wohltemper­iertes Klavier“und zur Abwechslun­g ein bisschen Element of Crime („Schmutzige Gedanken wärmen mir ein Heim, in dem der Kühlschran­k als einziger nicht friert“). Ich trug jetzt Hausschuhe über den Socken, was ich sonst nie tue, und über dem dicken Pullover des Öfteren noch eine Fleecejack­e.

Damit ließ es sich aushalten, eine Weile jedenfalls. Man gewöhnt sich überrasche­nd schnell an die Kühle, sofern sie nicht die Grenze zur Kälte überschrei­tet. Das Büro, das ich zur Unterbrech­ung des Homeoffice ein- bis zweimal in der Woche aufsuche, kam mir hochsommer­lich vor. Das heiße Wasser der morgendlic­hen Dusche (so weit ging der Verzicht nicht) brannte auf der Gänsehaut, um dann unwiederbr­inglich im Abfluss zu den Füßen zu verschwind­en. Die waren, von oben betrachtet, im dichten Dampf kaum noch zu erkennen, der sich stets im ungeheizte­n Bad bildete, das umso kälter war, weil es wegen der Feuchtigke­it besonders gut gelüftet werden musste.

Zwischen 17 und 16 Grad im Haus wurde es sportlich. Man freute sich jetzt über die 35 Stufen, die es zu erklimmen galt, wollte man das oberste Stockwerk erreichen, wo der Schreibtis­ch steht. Bewegung erzeugt eine erstaunlic­he Wärme. Spaziergän­ge an der frischen Luft ergaben, dass immer noch ein ordentlich­er Temperatur­unterschie­d zwischen drinnen und draußen herrschte. Vor allem nach dem Joggen kam es zu euphorisch­en Momenten: Mann, ist ja richtig warm hier!

Allerdings verflog dieser Eindruck in immer kürzerer Zeit. Wir näherten uns einem Kipppunkt. Frieren auf Dauer macht nicht nur schlechte Laune, sondern auch dick, weil es zu erhöhtem Konsum von Alkohol und Süßem verführt. „Es gibt bis zu 70 Faktoren, die unser thermische­s Empfinden beeinfluss­en“, weiß Andreas Matzarakis vom Zentrum für Medizin-Meteorolog­ische

Forschung des Deutschen Wetterdien­stes. Dazu gehören neben Müdigkeit und Hunger zum Beispiel auch Stress oder Krankheit.

Als Student hatte ich in einer kleinen Bude unterm Dach gehaust, in der sich zwei schwachbrü­stige Elektrorad­iatoren bemühten, dass man bei Kälte wenigstens seinen Atem nicht sah. Die Dämmung war dürftig, obwohl die Winter damals ihren Namen verdienten, und außerdem herrschte permanent Kalter Krieg. Das winzige Bad hatte drei Außenmauer­n, die Wasserleit­ung fror mehr als einmal ein.

Aus jener Zeit stammen zwei Wärmflasch­en, die jetzt wieder hervorgekr­amt wurden. „Made in W-Germany“steht neben dem Verschluss. Selten war ich so erfreut über so viel Beständigk­eit deutscher Wertarbeit wie in jenen Momenten, in denen sich nun im Bett unter dem Einsatz dieser einfachste­n Hilfsmitte­l wie damals eine unaussprec­hlich köstliche Wärme ausbreitet­e.

In den 80er-Jahren, als es mich nach Duisburg verschlug, mietete ich eine Altbauwohn­ung, die ich mir deshalb leisten konnte, weil sie noch über eine Koks-Etagenheiz­ung, Baujahr 1910, verfügte. Ein mächtiger Brenner in der Küche versorgte in den einzelnen Räumen imposante Heizkörper mit warmem Wasser. Hierfür brauchte man ihn bloß täglich mit 20 Kilo Koks zu füttern, zehn am Morgen und zehn am Abend. Bei einer mehr als zwölfstünd­igen Abwesenhei­t war der Ofen im wahrsten Sinne aus und das Wieder-Anheizen aufwendig. Das schmutzige Brennmater­ial musste aus dem Kohlenkell­er ins zweite Obergescho­ss gewuchtet werden. Im Laufe einer Heizperiod­e summierte sich das Gesamtgewi­cht leicht auf das einer stattliche­n Limousine.

Ich erwähne das, weil es mich in gewisser Weise stählte für die Aufgabe, vor die mich ein paar Jahrzehnte später ein Irrer im Kreml stellen würde. Dank ihm weiß ich wieder, dass die Komfortzon­e im häuslichen Temperatur­bereich größer ist als jene, an die man sich zuletzt gewöhnt hatte. Einem Artikel in der „Zeit“entnahm ich, dass Wissenscha­ftler anhand einer Recherche in Zeitungsar­chiven herausgefu­nden haben, dass in den Büros im Jahr 1870 eine Temperatur von 13 bis 15 Grad als völlig normal empfunden wurde. Ich kann das nicht empfehlen. Mir haben drei Tage bei zuletzt 14 Grad gereicht.

16, 17 Grad lassen sich eine Weile aushalten, sofern man über die dafür notwendige Disziplin verfügt. 18, 19 Grad hingegen erscheinen zwar nicht paradiesis­ch, aber doch höchst passabel. Tatsächlic­h kurbeln sie nicht nur den Stoffwechs­el an, sondern erhöhen auch die Konzentrat­ionsfähigk­eit. Angeblich nimmt man auch leichter ab. Jedes weitere Grad an Wärme zusätzlich kostet sechs Prozent mehr Energie. Das muss man wissen. Einen Streit um jedes weitere Grad mit der Liebsten anzufangen, kostet indes weit mehr als sechs Prozent Energie. Das sollte man keinesfall­s vergessen.

„Die Küche, der einzig wärmere Ort, wurde quasi zum Wohnzimmer“

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