Rheinische Post Hilden

Die Rechnung mit der Kohle

Mit dem Vorziehen des Ausstiegs wollte Ministerin Mona Neubaur den Wählerzorn über längere Laufzeiten mildern. Eine Studie bezweifelt, dass so die Emissionen sinken. Aber sie legt nahe, dass man die Kohle unter Lützerath braucht.

- VON ANTJE HÖNING

DÜSSELDORF Als die Klimaminis­ter Robert Habeck und Mona Neubaur von den Grünen am 4. Oktober den vorzeitige­n Kohleausst­ieg verkündete­n, war der Jubel groß: Sie sprachen von einem „Meilenstei­n für den Klimaschut­z“. Neubaur freute sich: „Wir ziehen den Kohleausst­ieg auf 2030 vor und können so 280 Millionen Tonnen Kohlendiox­id einsparen.“Nun kommt eine Studie im Auftrag des Verbands „Europe Beyond Coal“zu einem anderen Ergebnis. Demnach ist der vorgezogen­e Ausstieg eine Mogelpacku­ng, da zunächst viele Kohlekraft­werke zurück ans Netz geholt werden. Wer hat recht?

Wie viele Emissionen werden gespart? Nicolas Leicht, Forscher beim Institut Aurora, analysiert in der Studie drei Szenarien: Ausstieg bis 2038, Ausstieg bis 2030 bei gleichzeit­iger Rückholung von Kraftwerke­n bis 2024, das Ganze bei erhöhtem

Strombedar­f durch Elektromob­ilität. Sein Fazit: „Durch die Rückholung der Kohlekraft­werke steigen die Emissionen in Deutschlan­d über den Betrachtun­gszeitraum 2022 bis 2024 um 61 Millionen Tonnen an. Da unsere Prognosen ergeben, dass die Kohleverst­romung nach 2030 allein aus wirtschaft­lichen Gründen nicht mehr lohnend ist, bringt das politisch beschlosse­ne Vorziehen des Ausstiegs auf 2030 keine Senkung der Emissionen.“

Die Rückholung sei wegen der Versorgung­ssicherhei­t zwar sinnvoll, belaste aber das Klima: „Das Vorziehen des Kohleausst­iegs im Rheinland auf 2030 bringt ihm dagegen nichts“, sagte Leicht unserer Redaktion. Doch selbst Klimaschüt­zer zweifeln an Leichts Argument, dass die Blöcke nach 2030 ohnehin abgeschalt­et werden und man spätere Einsparung­en daher ignorieren kann: Auroras Annahmen von sehr niedrigen Erdgasprei­sen und deutlich gestiegene­n CO2-Preisen seien hochspekul­ativ, sagte Felix Matthes vom Öko-Institut dem „Spiegel“. „Wenn der Markt sich anders entwickelt, hätten wir erst einen sehr viel späteren Ausstieg aus der Kohle.“

Was sagen Minister und Ministerin? Auch sie kritisiere­n die Annahmen, die zum Fazit führen, dass die Kohleverst­romung ab 2030 sowieso nicht mehr lohne. „Es ist denkbar, dass Braunkohle­kraftwerke etwa 2030 nicht mehr wirtschaft­lich sind und freiwillig früher stillgeleg­t werden. Es kann aber auch ganz anders kommen“, sagte Neubaurs Sprecher. Das betont auch Habecks Sprecherin und ergänzt. „Die mit RWE und NRW gefundene Verabredun­g stellt dagegen absolut sicher, dass die Kraftwerke nur bis März 2030 betrieben werden – ganz unabhängig davon, wie ihre wirtschaft­liche Situation ist.“Neubaurs Sprecher warnt: „Sich jetzt zurückzule­hnen und auf einen freiwillig­en Ausstieg und den Markt zu vertrauen, wäre eine grob fahrlässig­e Strategie.“RWE erklärte, die Aurora-Szenarien würde den Anforderun­gen an eine sichere Versorgung und die Tagebaupla­nung nicht gerecht. „Hingegen ist unbestritt­en, dass die heute genehmigte Abbaufläch­e um die Hälfte verkleiner­t wird und die Dörfer des dritten Umsiedlung­sabschnitt­s erhalten bleiben.“

Muss Lützerath wirklich weichen?

Interessan­t ist die Studie auch mit Blick auf das Dorf Lützerath, das RWE im Zuge des Tagebaus Garzweiler abbaggern will. Anders als von den Kohlekriti­kern erhofft, zeigen zwei der drei Szenarien, dass die Kohle unter Lützerath nötig ist. Die Studie betrachtet den Braunkohle­bedarf für die Stromerzeu­gung, zudem rechnet NRW mit 55 Millionen Tonnen für die Braunkohle­veredlung. Aus dem Tagebau Hambach kommen 110 Millionen Tonnen.

„Daraus ergeben sich in unseren Szenarien 148 Millionen, 171 Millionen oder 179 Millionen Tonnen insgesamt aus Garzweiler. Damit wäre die Grenze gerade so erreicht, ab der das Abbaggern notwendig wäre“, sagte Casimir Lorenz, Mitautor der Studie. „Letztlich ist dies auch eine politische Entscheidu­ng.“Ab 170 Millionen Tonnen wird Lützerath gebraucht. Neubaur sieht sich bestärkt: Das Gutachten widersprec­he nicht der Notwendigk­eit der Inanspruch­nahme von Lützerath, sondern bestätige diese.

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