Erst Schwarzfahren, dann Gefängnis
Fahren ohne Ticket ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat. Immer wieder müssen Schwarzfahrer ins Gefängnis, meist trifft das arme Menschen. Doch der Protest gegen den Paragrafen 265a wächst – auch wegen der Düsseldorferin Gisa M.
DÜSSELDORF Gisa M. zog ihren gepackten Koffer hinter sich her, als sie vor einem Monat vor dem Amtsgericht ankam. Zittrig und die Hände in den Taschen vergraben stand sie vor dem grauen Gebäude. Sie befürchtete, gleich nach der Anhörung verhaftet zu werden. Diese Befürchtung wurde nur wenige Tage später wahr – die Polizei nahm die 56-Jährige fest und nun sitzt sie im Gefängnis, um eine sechsmonatige Strafe zu verbüßen. Ihr Vergehen: Sie ist mehrmals ohne Ticket mit der Bahn zum Arzt gefahren.
Die Geschichte von Gisa M. ist beispielhaft für viele Insassen deutscher Gefängnisse. Denn Schwarzfahren ist kein Bagatelldelikt, sondern eine Straftat nach Paragraf 265a Strafgesetzbuch. Dieser sieht für das „Erschleichen von Leistungen“eine Geldstrafe oder bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe vor. In Deutschland kommen jährlich etwa 7000 Menschen deshalb ins Gefängnis. Allein 2021 hat die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft fast 3500 Mal wegen Leistungserschleichung ermittelt, 500 Fälle kamen zur Anklage, die meisten wegen Schwarzfahrens.
Es gibt einen Weg, dem zu entgehen: Schwarzfahrer können ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“von 60 Euro zahlen. Insbesondere für ärmere Menschen ist das jedoch eine Zwickmühle – ist das Geld schon für die Fahrkarte zu knapp, reicht es ebenso wenig für die Strafe. Und eine nicht bezahlte Geldstrafe mündet in einer sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe. Experten zufolge müssen jedes Jahr gut 50.000 Menschen deswegen ins Haft. Einer Studie des Kölner Instituts für Kriminologie zufolge leben viele der Verbüßenden in prekären Umständen: Zwei von drei leiden unter einer psychischen Krankheit, die Hälfte ist alkoholabhängig, nahezu alle führen keine stabile Partnerschaft.
Auch Gisa M. hat eine schwierige Vergangenheit, und ihr fehlte das
Geld für die Tickets, wie sie erzählt. Die 56-Jährige hat viele Jahre auf der Straße gelebt und war von Heroin abhängig. Doch sie war auf einem guten Weg. Zuletzt hat sie mit ihrem Hund Balu in einer eigenen Wohnung in Benrath gelebt und für die Drogenhilfe gearbeitet. Der Verein hat auch das Sozialticket für Gisa M. bezahlt. Das konnte sie sich zuvor selbst nicht leisten, wie sie sagt. Doch sie muss regelmäßig zum Arzt in die Stadt, um sich Methadon abzuholen. Zwei Mal wurde sie ohne Ticket erwischt und zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Dagegen verstieß sie mehrfach. Eine kurze Freiheitsstrafe sei darum unerlässlich, urteilte das Gericht.
Für viele Menschen ist das Gefängnis ein Riss in der Biografie, sie verlieren Arbeit, Wohnung, soziale Kontakte. Auch Gisa M. gehe es nicht gut in der JVA, berichten Bekannte. Sie wiege nur noch 40 Kilogramm, beim letzten Besuch ihrer Tochter habe sie viel geweint.
Doch der Rückhalt für die Düsseldorferin ist groß. Am Dienstag postierten sich Demonstranten, die ebenfalls schon wegen Schwarzfahrens im Gefängnis saßen, in Sträflingskleidung vor dem Justizministerium. Sie fordern eine Begnadigung und die Abschaffung des Paragrafen 265a. Hubert Ostendorf, Gründer des Straßenmagazins Fiftyfifty, bezeichnete das Gesetz als „unsäglich“. Es sei an der Zeit, den Paragrafen zu streichen.
Auch die Politik hat das Thema auf der Agenda. Die Ampelkoalition
hat angekündigt, das Strafrecht auf historisch überarbeitete Straftatbestände zu überprüfen – auch den der Leistungserschleichung. Dafür will sich auch Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) einsetzen. „Wir können unsere Ressourcen in der Justiz besser einsetzen“, sagte er in dieser Woche. Vor allem die Verhältnismäßigkeit stellen viele Kritiker infrage. So kostet ein Hafttag in NRW laut Justizministerium fast 180 Euro pro Häftling. Das halbe Jahr Gefängnisstrafe von Gisa M. kostet die Steuerzahler also mehr als 32.000 Euro – ein Einzelticket bei der Rheinbahn liegt bei drei Euro.
Auch SPD-Ratsherr Martin Volkenrath, der im Aufsichtsrat der Rheinbahn sitzt, empfindet diese Praxis als „zutiefst ungerecht, zutiefst unökonomisch“. Er zweifelt zudem an dem Effekt der Abschreckung, auf den sich viele Verkehrsbetriebe berufen. Bei denen sorgt der Vorstoß zur Abschaffung des Paragrafen für Gegenwind. „Der Staat hat das Gewaltmonopol. Darum muss der Staat auch dafür sorgen, dass die Rechtsordnung eingehalten wird“, sagte Volker Wente vom Verband der deutschen Verkehrsunternehmen in NRW.
In vergleichbaren Fällen wird das aber genau so gehandhabt – bei Knöllchen fürs Falschparken zum Beispiel. Das gilt als Ordnungswidrigkeit, nicht als Straftat. Zwar müssen Falschparker auch mit einem Bußgeld rechnen, das bei Nichtzahlen ebenfalls eine Haft nach sich ziehen kann. Doch eine Verfolgung wegen einer Straftat entfällt.
Gisa M. hofft auf Begnadigung. Das Gnadengesuch wird derzeit beim Landgericht geprüft. Wann eine Entscheidung fällt, ist bislang nicht klar. Die größte Angst der 56-Jährigen, ihre Wohnung zu verlieren und wieder auf der Straße zu landen, ist jedoch ausgeräumt. Das Jobcenter bezahlt die Wohnung für ein halbes Jahr. Die Obdachlosenhilfe Fiftyfifty hat zugesichert, ihr Sozialticket zu übernehmen.