Ein Kaffee für die Menschheit
In Neapel ist Espressotrinken eine Philosophie. Hier wurde der Caffè sospeso erfunden – eine kleine Wohltat für Unbekannte. Heute hat sich die soziale Geste verselbstständigt und ist vor allem bei Touristen beliebt.
ROM Sergio Antonio empfängt im Separee. Vergoldete Kronleuchter hängen von der Decke, der Stuck ist im Gran Caffè Gambrinus von Neapel nicht sparsam aufgetragen. Die Wände sind cremefarben gehalten oder verspiegelt, allegorische Figuren überwachen das Ambiente. Und Sergio Antonio sitzt im Kaffeeduft, abseits der klirrenden Untertassen und der Rufe der Kellner an einem runden Tisch und erklärt, was der Kaffee für Neapel bedeutet. „Alles“, könnte man bündig zusammenfassen.
Der Eigentümer des berühmten Traditionskaffees aus dem Jahr 1860 sagt es im Italienisch des 21. Jahrhunderts: „Für die Neapolitaner ist das Kaffeetrinken ein wahrhaftiger Pit-Stop!“Der atemlose Alltag kommt zum Stehen wie ein überdrehter Formel-Eins-Bolide, man lädt sich wieder auf, als hätte man hier im Süden ein natürliches Recht auf diese notwendige Minipause, in der man sich ein schwarzes, flüssiges Kondensat, meist gut gezuckert, einverleibt. „Wir sagen nicht: ,Beviamo un caffè‘, trinken wir einen Kaffee. In Neapel sagen wir: ,Pijamoce un caffè‘, nehmen wir ihn uns, als sei er etwas, das uns wie selbstverständlich zusteht.“Kaffeephilosophie im Gambrinus.
In Neapel arbeiten sie darauf hin, dass der Caffè espresso doch noch von der Unesco als Weltkulturerbe anerkannt wird. Im März kam die Absage. Die da draußen verstehen es halt nicht, was er ihnen bedeutet. Traurig. Traurig ist in dieser nervösen, pulsierenden Stadt auch, wenn man seinen Caffè alleine und nicht in Gesellschaft trinkt. „Wir müssen kommunizieren, wir müssen einander anfassen, uns spüren, um uns zu versichern, dass wir lebendig sind“, sagt Kaffeehausbesitzer Sergio.
Was also macht der überaktive, fröhliche, immer kommunikationsbedürftige Bewohner Neapels? Er bezahlt zwei Kaffees, trinkt aber nur einen. Den zweiten kann ein Unbekannter später zu sich nehmen, gratis. Eine kleine, die eigene Einsamkeit tröstende, humanitäre Geste zum Preis von aktuell 1,30 Euro im Gambrinus, allerdings nur an der Bar. So entstand der aufgeschobene Kaffee, der Caffè sospeso.
Antonio Sergio ist sich sicher, dass dieses sich um den Erdball verbreitende Ritual in seiner Traditionsbar erfunden wurde. Die Speisekarte rezitiert dasselbe. Wie zum Beweis dieser Originalität steht gleich neben dem Haupteingang des Gambrinus eine überdimensionale Kaffeekanne, beschriftet mit Schildern in sieben Sprachen, die den Touristen aus der ganzen Welt das Konzept des Caffè sospeso als „suspended coffee“, „café suspendu“„café pendiente“oder „geschenkte Kaffees“erklären.
Im Inneren der Kanne befinden sich an diesem Vormittag vier Kassenzettel, sogenannte Scontrini, auf denen die Kassiererin handschriftlich den Vermerk „sospeso“, also aufgeschoben, vermerkt hat. Vier Wohltäter waren an diesem Morgen bereits da, mutmaßlich Bürger aus Massachusetts, Monaco, Madrid oder München. „Nehmen Sie einen Scontrino und probieren Sie es aus!“, sagt Antonio Sergio. Man zögert erst, nimmt dann den Zettel, geht zum marmornen Tresen mit den Kellnern in schwarzer Weste und Fliege und bestellt seinen kostenlosen Kaffee, der in wunderbar theatralischer Weise vom geheimen Dominus des Etablissements an der Kaffeemaschine zubereitet und in einer Kette eingeübter Mechanismen, vom Entnehmen der Tasse aus dem heißen Wasserbad bis zur Vorbereitung von Untertasse und Löffel, dem Glücklichen vor die Nase gestellt wird.
Der schon im 19. oder möglicherweise erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborene „sospeso“– so genau weiß das niemand – fand Eingang in die italienische Literatur. Der neapolitanische Philosoph und Autor Luciano De Crescenzo beschrieb das Ritual in seinem Buch „Il caffè sospeso“(2017) auf diese Weise: „In Neapel gab es früher einen schönen Brauch: Wenn jemand gut gelaunt war und an der Bar einen Caffè trank, bezahlte er statt einem gleich zwei. Der zweite war für den nächsten Kunden reserviert. Anders ausgedrückt: Es war ein Caffè für die Menschheit. Von Zeit zu Zeit kam dann jemand an die Tür des Cafés und fragte, ob es einen ,sospeso‘ gäbe.“
Der aufgeschobene Kaffee trägt dem im Privaten ungemein ausgeprägten Gemeinschaftssinn dieser Stadt Rechnung, als kleine Geste der Nächstenliebe. Während der mageren Zeiten des Zweiten Weltkriegs wurde die zunächst aus dem Bedürfnis nach Gemeinschaft erwachsende rein philanthropische Geste zum Wohltätertum. Den „sospeso“nahmen Leute zu sich, die nicht einmal Geld für einen Kaffee hatten. Man fühlt sich deshalb nur halbgut beim Genuss des aufgeschobenen Caffès am Tresen des Gambrinus, als hätte man jemand anderem die kleine Wohltat weggenommen.
Während man noch mit Kaffeegeschmack im Mund über die Effekte des durchschnittlichen Konsums der Stadtbewohner (fünf Tassen) auf Verkehr und Sozialleben nachdenkt, kommt Antonio Sergio mit einer entwaffnenden Wahrheit um die Ecke. 2013 ging das Gambrinus schlecht, es gab Streit mit der Bank. Wie also aus diesem Loch herauskommen? Man zog einen Marketing-Experten hinzu, der die Wiederbelebung des Caffè sospeso vorschlug. Die Kaffeekanne wurde neben der Kasse platziert, die „New York Times“beschrieb das Phänomen. Der Brauch machte die Runde, ein genialer Coup. Selbst in Deutschland, Spanien, den USA, Australien und Bulgarien fand die Tradition Nachahmer.
Wer aber sind heute die Wohltäter? Die Dame an der Kasse versichert, täglich kämen bis zu 30 Kunden und bezahlten einen „sospeso“. Zu Gesicht bekommt man die Herrschaften nicht. Handelt es sich beim sospeso heute nur noch um eine für Touristen aufgewärmte Romanze aus dem vergangenen Jahrhundert, zumal es dieser Tage ebenso unmöglich scheint, leibhaftigen Begünstigten zu begegnen?
Auf der Suche nach der Antwort hilft es, sich vom Gambrinus an der Piazza del Plebiscito in die Innenstadt und noch weiter aufzumachen. In der Via dei Tribunali hat das Caffè Diaz ein Schild vor der Türe hängen. „Achtung, hier gibt es Caffè sospeso“, steht darauf geschrieben. Darunter ist der berühmte Stadtkomiker Totò abgebildet. Der Betreiber Luigi Grieco garantiert, dass Wohltäter bis zu 20 „sospesi“am Tag bezahlten. Obdachlose und Rucksacktouristen kämen vorbei und nähmen den geschenkten Kaffee in Anspruch. Sogar
Stadtführer bringen ihre Gruppen hierher, um das Phänomen zu beschreiben. Grieco sagt, dass man erkenne, wer einen Kaffee nötig habe und wer nicht. Wenn niemand vorher bezahlt hat, spendiere er selbst das Getränk. Täuschungsversuch nimmt er neapolitanischstoisch hin. „Wenn mich einer bescheißt? Pazienza! Geduld.“
Das Konzept des aufgeschobenen Kaffees hat sich, vor allem während der Corona-Pandemie, auch bei anderen Lebensmitteln durchgesetzt. Schließlich braucht niemand wirklich einen Kaffee zum Überleben, dafür aber zum Beispiel Essbares. Die Szene-Pizzeria Concetta ai tre Santi im berüchtigten Sanità-Viertel hat in ihrem Ladengeschäft eine Tafel aufgestellt, auf der 805 bezahlte Pizze sospese vermerkt sind. Jeden Donnerstag hole eine Frau 15 Pizzen ab und verteile sie an Ältere und Arme, die sich diesen Luxus nicht leisten können. Während die Margarita im Lokal mit 13,50 Euro berechnet wird, kostet sie „aufgeschoben“nur 2,50 Euro. So gibt es einen Anreiz zur Wohltätigkeit.
In Rom hatte zu Pandemiezeiten der Lokalpolitiker Valerio Casini die Idee, ein Netzwerk für aufgeschobenen Kaffee und sonstige Lebensmittel aufzubauen. Im zweiten, wohlhabenden Stadtbezirk im Norden der Stadt machten zu Beginn 18 Bars und Restaurants mit, von denen heute nur noch eine Handvoll diesen Brauch bewahrt haben. Carlotta Bettoli vom Restaurant Mediterraneo, gegenüber des Maxxi-Museums, erzählt begeistert, dass sie den Caffè sospeso noch aus ihrer Kindheit im Abruzzen-Dorf San Vito Chietino kenne: „Du bezahlst zwei Caffè und trinkst nur einen.“Auch hier im Mediterraneo sei das Usus. Manchmal kämen ältere Menschen vorbei, die die bezahlten Kaffees konsumierten.
Sehr ernst nimmt man Solidarität im Bistrot Sicilia Bedda. Ein Aufkleber an der Fensterscheibe schlägt den Passanten vor: „Das ist ein solidarisches Geschäft. Spendiere einen Caffè oder einen Pasto sospeso“, ein aufgeschobenes Gericht, wahlweise frittierte sizilianische Reisbällchen (Arancini) oder Auberginen-Auflauf (Parmigiana). „Man kann soviel spenden, wie man will, 50 Cent oder 50 Euro “, sagt die Betreiberin Viviana Vesentini. Weil die Bereitschaft seit der Pandemie wieder abgeebbt ist, sammelt Vesentini das Geld und bringt es am Ende des Jahres der katholischen Laiengemeinschaft St. Egidio in Rom zusammen mit 200 Essensportionen für ein Weihnachtsessen der Obdachlosen. 100 Euro kamen vergangenes Jahr zusammen.
Noch einmal zurück nach Neapel, ins Sanità-Viertel, wo dreiköpfige Familien ohne Helm auf ihrem Scooter fahren und die Bar Hollywood tatsächlich fahrende Kellner sucht, die einhändig mit ihrem Motorroller über das Kopfsteinpflaster galoppieren, während sie in der Linken Cappuccini auf einem Tablett zu den Kunden nach Hause balancieren. Es ist fast schon Mitternacht, eine auf den ersten Blick nicht besonders vertrauenswürdige Männergruppe nimmt im Hollywood den Mitternachtskaffee zu sich, während man selbst in einem Moment der Schwäche ein sagenhaftes Gesöff aus Kaffeecreme, Nutella und Schlagsahne gewählt hat. Ein gewisser Ciro aus der Gruppe nähert sich unvermittelt. „Te lo offro io“, sagt er, ich bezahle für dich. Einfach so? Einfach so. Ungläubig, dankbar nimmt man das Geschenk an, eine Art nachträglicher sospeso, eine wunderbare Geste unter Unbekannten. Eine Bedingung stellt Ciro dann noch: „Basta che ci vuoi bene!“Das bedeutet in diesem Fall soviel wie: Hauptsache du hast uns Neapolitaner lieb.