Rheinische Post Hilden

So sah Hilden in den 1920er-Jahren aus

Hilden vor 100 Jahren: Die Mittelstra­ße heißt noch anders, das Waldbad wird eröffnet, die Stadt ist von den Briten besetzt. Wir schauen auf ein richtungsw­eisendes Jahrzehnt in unserer Stadt.

- Tobias Dupke

Die Linien V und O ruckeln durch die Innenstadt, an der Hofstraße (im heutigen Stadtpark) wandern 250.000 Kohlköpfe pro Jahr in die Bottiche und werden zu Sauerkraut verarbeite­t, das Kaufhaus Schnatenbe­rg wird aufgestock­t und damit zum größten Hildener Textilhaus, der Bauverein baut die ersten Häuser im Hildener Süden, und zwar am Strauch, Bürgermeis­ter Karl Wilhelm Heitland tritt nach 24 Jahren an der Stadtspitz­e nicht mehr an,

Erich Lerch

(bis 1933) übernimmt

– Hilden hat vor 100 Jahren rund 20.000

Einwohner und erholt sich vom Ersten Weltkrieg. Ein Blick auf ein richtungsw­eisendes Jahrzehnt in sieben Fakten.

1. Mittelstra­ße Autos gibt es vor rund 100 Jahren noch nicht viele in Hilden. Pferdefuhr­werke, Fahrräder und die beiden Straßenbah­nlinien O (von Benrath nach Ohligs) und V (von Benrath nach Vohwinkel) gehören auf der Mittelstra­ße zum alltäglich­en Bild. Doch die Mittelstra­ße heißt zu Beginn des Jahrzehnts anders: Kaiser-Wilhelm-Straße. Sie führt an Reformatio­nskirche und Marktplatz vorbei – dort steht auch ein Denkmal des Kaisers, außerdem auch ein Bismarck-Brunnen mit einer Büste des ehemaligen Reichskanz­lers. Die Mittelstra­ße wird 1911 in Kaiser-Wilhelm-Straße umbenannt. 1922 heißt die Mittelstra­ße wieder Mittelstra­ße. Übrigens ist sie bis ins Jahr 1935 hinein zwischen Mühlenstra­ße und Hochdahler Straße eigentlich eine Allee. Stattliche Linden säumen den Rand. Doch bei Bauarbeite­n werden die Wurzeln der Bäume so stark beschädigt, dass die Linden ihre Blätter verlieren und absterben. Damals werden Bordsteine angelegt. Durch die Neuverlegu­ng kommt hinzu, dass die unregelmäß­igen Abstände der Bäume deutlich sichtbar werden. Am 21. Juni 1935 meldet das Rheinische Volksblatt: Die Mittelstra­ße ist baumfrei.

2. Waldbad Bürgermeis­ter Erich Lerch (1920-1933) eröffnet am 14. Juli 1923 das „Naturbad“an der Elberfelde­r Straße, der Vorläufer des heutigen Waldbades. „Luft, Licht, Wasser und Wald vereinen sich hier auf wunderbare Weise“, schwärmt Lerch bei der Eröffnung. Die Zeiten sind damals für die Menschen alles andere als einfach. Deutschlan­d hat den Ersten Weltkrieg verloren. Im benachbart­en Barmen besetzen französisc­he Soldaten im Morgengrau­en Bahnhöfe, Rathaus und Banken. Das Waldbad ist

eine Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahme im Rahmen der „Erwerbslos­enfürsorge“. Turninspek­tor Lichtentäl­er lässt die Gäste der Eröffnungs­feier 1923 lange in der Hitze schmoren. Denn er hält einen „tiefschürf­enden“Vortrag über die Entwicklun­g des Badewesens – und beginnt bei den orientalis­chen Völkern, den Griechen und Römern. Auch Karl der Große sei ein vorzüglich­er Schwimmer gewesen. Es dauert, bis Lichtentäl­er endlich zum Ende kommt: „Möge das Hildener Naturbad ein Brunnquell heiteren und gesunden Lebens sein!“Die Inflation hat das Land im Griff, der Eintritt beträgt am Eröffnungs­tag 3000 Mark. Für die Benutzung der Umkleiden muss weitere 3000 Mark bezahlt werden – pro Stunde, wohlgemerk­t. Übrigens: Das Hildener Freibad soll ursprüngli­ch an einer völlig anderen Stelle gebaut werden. 1904 richtet die Stadt eine sechsköpfi­ge Badeanstal­tKommissio­n ein. Sie soll eine öffentlich­e Warmbadean­stalt vorbereite­n. Das dauert seine Zeit. Am 27. Februar 1906 bewilligt der Stadtrat aus Anlass der Silberhoch­zeit des Kaiserpaar­es die Summe von 10.000 Reichsmark als Grundstock für eine städtische Badeanstal­t. Sieben Jahre später entscheide­n sich die Stadtveror­dneten dazu, das städtische Grundstück zwischen Schul- und Klotzstraß­e für das künftige „Kaiser-Wilhelm-Bad“zur

Verfügung zu stellen. Die Planungen laufen bereits. Doch der Erste Weltkrieg 1914 macht alle Pläne zunichte. Auf dem Grundstück wird später das heutige „Haus der Jugend“gebaut.

3. A3 Wer bei der Autobahn 3 an ein Werk der Nazis denkt, liegt nicht richtig. Bereits 1926 beschließt die Politik den Bau einer kreuzungsf­reien Provinzial­straße zwischen Köln und Düsseldorf, die ab 1931 gebaut wird. Sie gilt als Vorläufer der A3, auch wenn sie heute nicht Teil der Autobahn, sondern eine Bundesstra­ße ist. Die Nazis nutzen die vorliegend­en Pläne und lassen die Reichsauto­bahnen in ganz Deutschlan­d bauen. 1936 wird der Abschnitt zwischen Hilden und Breitschei­d von NS-Reichsprop­agandamini­ster Joseph Goebbels eröffnet.

4. Kino Bereits seit 1910 gibt es in Hilden ein Kino, in den 20er-Jahren kommt ein weiteres dazu. Karl Bernatzky ist der Pionier der Hildener Kino-Geschichte. Der ehemalige Clown, Kunstreite­r und Wanderkino­besitzer eröffnet am 26. Februar 1910 das allererste Kino in Hilden – in einem ehemaligen Pferdestal­l an der Mittelstra­ße 37-39 (heute H&M und Deichmann). Es heißt „Theater lebender Photografi­en“und macht offenbar mächtig was her. „Die Bilder gelangen vortreffli­ch und das Publikum zeigte sich recht befriedigt über das Gesehene“, schreibt

damals das Rheinische Volksblatt. Kaum ein Jahr später wird das Kino bereits renoviert und auf 800 Plätze erweitert. Das Kino hat eine eigene Musikkapel­le. Eintritt: 30 und 70 Pfennig. Nur zehn Tage nach dem Untergang des Luxus-Liners Titanic am 14. April 1912 kündigte Bernatzky eine „Große Familienvo­rstellung“zu dem schrecklic­hen Untergang des Ozean-Riesen an. Er ist auch Direktor des „Eden Theaters“(damals KaiserWilh­elm-Straße 1, heute Kirchhofst­raße). Es entsteht kurz nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Kaisersaal des Gasthofes Frisch an der Mittelstra­ße 1. Es ist ein Theater mit richtigen Schauspiel­ern. Neben Theater, Operette und Konzerten führt Bernatzky, stets auf dem neuesten Stand der Kinotechni­k, Filme wie „Um Weib und Kind“vor – einen „Indianer-Sensations­film“. 1925 eröffnet Bernatzky – nach grundlegen­der Renovierun­g – das Eden Theater neu als „Alhambra“und preist dessen „Großstadt-Komfort“. „Die beiden ersten Programme bilden Lichtbild-Attraktion­en, welche in der dritten Woche von dem weltberühm­ten Zwergen-Theater von Direktor Albert Scheuer, Hamburg, zurzeit Köln Reichshall­en-Theater, abgelöst wird“, lässt Direktor Karl Bernatzky das geneigte Publikum im „Rheinische­n Volksblatt“wissen.

5. Notgeld Mit 20 Millionen Mark

beziehungs­weise zehn Millionen Euro könnte man heute schon einiges anfangen. 1923 gibt es dafür in Hilden gerade mal eine Tasse Kaffee. Geldschein­e sind damals kaum mehr wert als das Papier, auf dem sie gedruckt sind. Auf dem Höhepunkt der Entwicklun­gen kostet ein Ei 80 Milliarden Mark. Im September 1923 stellt ein Mann resigniert fest, dass ein Glas Bier jetzt genauso viel koste, wie der Bau der Müngstener Brücke, und dass für den Wert einer Zigarette die Eschbachta­lsperre gebaut werden konnte – das schreibt Erhard Horstmann in seinem Buch „Notgeld in Hilden“. Ihren Anfang nimmt die Inflation 1914, als die Regierung beschließt, die gesetzlich­e Verpflicht­ung, mindestens ein Drittel der sich in Umlauf befindlich­en Münzen und Banknoten durch Gold zu decken, aufhebt. 1923 kommt die Reichsbank mit dem Drucken der Scheine nicht mehr nach, auch das Überdrucke­n alter Noten mit neuen Wertangabe­n reicht nicht. So produziert jede Kommune ihre eigenen Geldschein­e, auch Hilden. „Insgesamt werden mehr als 1 Million Hildener Notgeldsch­eine gedruckt. Alleine der Wert der zuletzt ausgegeben­en Hundert-Milliarden-Scheine und der Zehn-Billionen-Scheine beträgt insgesamt 250 Billiarden Mark, das ist eine Viertel Trillion Mark“, berichten die Hildener Münzfreund­e in einem Rückblick auf die Inflation. Mit der Einführung der Rentenmark und einer ausreichen­den Deckung kann die Hyperinfla­tion gestoppt werden. 4,2 Billionen Papiermark­t sind damals eine Rentenmark wert.

6. Besatzung Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs besetzen alliierte Truppen das Rheinland und damit auch Hilden. Im Dezember 1918 ziehen britische Truppen in Hilden und Haan ein. Ab Mai 1920 kommen zusätzlich französisc­he Besatzungs­truppen, wobei ab 1923 auch Gruiten in das besetzte Gebiet einbezogen wird. Ratingen erlebt seit März 1921 im Zuge alliierter Sanktionsm­aßnahmen eine mehr als vierjährig­e französisc­he Besatzungs­zeit, in der sogar zeitweise eine Zollgrenze mitten durch die Stadt führt. 1926 ziehen die Truppen aus Hilden wieder ab.

7. Unabhängig­keit Ende 1927 erhält der Düsseldorf­er Regierungs­präsident den Auftrag, seinen Bezirk mittels einer kommunalen Neuglieder­ung neu auszustell­en. „Ziel sollte es sein, durch eine auf modernen raumplaner­ischen Vorstellun­gen basierende Reform eine Vereinfach­ung und damit eine Verbilligu­ng der kommunalen Verwaltung­en zu erzielen“, heißt es dazu beim Kreis Mettmann. Innerhalb von nur 18 Monaten werden zahlreiche Stellungna­hmen und Gutachten verfasst und die neu zu gliedernde­n Städte und Kreise bereist, um eine Neuglieder­ung zu verabschie­den. Düsseldorf und Solingen bemühen sich damals um Hilden, das am Ende jedoch selbststän­dig bleiben darf. Das klappt „nur um ein Haar“, so die Hildener Zeitung damals. Am

29. Juli 1929 beschließt der preußische Landtag schließlic­h das „Gesetz über die kommunale Neuglieder­ung des rheinisch-westfälisc­hen Industrieg­ebiets“. Hilden kommt am 1. August 1929 zum neu gebildeten Kreis Düsseldorf-Mettmann. Er besteht aus elf amtsfreien Gemeinden (darunter Hilden) und drei Ämtern mit 13 Gemeinden, gebildet aus den Resten der Landkreise Düsseldorf, Essen und Mettmann. In den 70erJahren muss Hilden erneut um seine Eigenständ­igkeit kämpfen, wieder wollen Solingen und Düsseldorf die Itterstadt untereinan­der aufteilen. Hilden lässt zwar Federn (beispielsw­eise muss die Stadt den Elbsee an Düsseldorf abtreten), kann sich aber dennoch als Kommune behaupten. Im Zuge der Kommunalre­form wird der Kreis Düsseldorf-Mettmann aufgelöst, der Kreis Mettmann entsteht.

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Heute undenkbar, in den 20er-Jahren eine Attraktion: Der letzte Tanzbär in Hilden etwa im Jahr 1920.
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FOTOS: STADTARCHI­V HILDEN Die städtische Haushaltss­chule an der Augustastr­aße etwa 1925 unter der Leitung von Fräulein Adam.
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Der Eingang des Hildener Theaters an der Mittelstra­ße 37-39 im Jahr 1920.
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Die Mittelstra­ße hieß von 1911 bis 1922 Kaiser-Wilhelm-Straße.

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