Der Weltbürger von Königsberg
An diesem Montag vor 300 Jahren kam ein Mensch zur Welt, der schon zu Lebzeiten als einer der bedeutendsten Köpfe der abendländischen Philosophie galt: Immanuel Kant. Mit seinem Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“setzte er Maßstäbe.
Immanuel Kant wird selbst in seiner unter dem Namen Kaliningrad zu Russland zählenden Heimat Königsberg gefeiert. Präsident Putin hat den Reigen der Veranstaltungen rund um den 300. Geburtstag am 22. April zur Chefsache erklärt und beruft sich darauf, dass Kant einst im Siebenjährigen Krieg fünf Jahre lang Untertan des Russischen Reichs war. Im Mittelpunkt wird ein internationaler Kongress stehen. Darin soll, wie verlautet, Kant als der wirkliche Bewahrer abendländischer Werte geehrt werden, in Abgrenzung zum politischkulturellen Feind. Da kommt dem Präsidenten Kaliningrad als Schauplatz gerade recht, jene russische Exklave, die eingekeilt zwischen Litauen und Polen liegt und damit unmittelbar an der Grenze zum Gebiet der Nato, auf dem die Werte des Westens gelten.
Schwertun wird sich der Kongress vermutlich nicht nur mit Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“. Denn für Kant war Freiheit ein Grundbegriff; Freiheit als die apriorische, also allein aus Denken gewonnene Möglichkeit eines freien und moralischen Handelns.
Kant war nicht nur Fachmann für Philosophie, sondern Generalist. Obwohl er seine Geburtsstadt lebenslang nicht verließ, war er über das Weltgeschehen, vor allem über das Geistesleben im Ausland, auf dem Laufenden. Gern empfing er Besuch von jenseits der Grenzen und ließ den Inhalt seiner Gespräche in seine Vorlesungen an der Königsberger Universität einfließen. Die bezogen sich nicht allein auf Philosophie, sondern umfassten ebenso Geografie, Kosmologie, Mathematik, Biologie, Physik, Jura und Dichtkunst. So war Kant ein Weltbürger in der preußischen Provinz.
Lange Zeit bestimmten Kants tägliche Spaziergänge durch Königsberg, nach deren Beginn man die Uhr stellen konnte, das Bild dieses Menschen in der Nachwelt, eines nur 1,57 Meter großen, schmächtigen Mannes, der im Alter einen Buckel bekam. Dazu schien kaum zu passen, dass Zeitgenossen den lebenslangen Junggesellen als dennoch attraktive Erscheinung schilderten, als jemanden, der Wert auf ein elegantes Äußeres legte und in Gesellschaft förmlich aufblühte. Kant lachte gern, hatte einen trockenen Humor und erzählte sogar Witze. Ironiker war er in einer solchen Feinsinnigkeit, dass Forscher oft Zweifel haben, ob in seinen Schriften eine Äußerung ernst gemeint ist oder das Gegenteil des Gesagten bedeuten soll.
Das gilt selbst für einen Text wie seine Altersschrift „Zum ewigen Frieden“. Schon der Titel enthält Ironie. Denn er bezieht sich auf ein Wirtshaus, das an einem Friedhof lag, und wirft scherzhaft die Frage auf, ob man Frieden vielleicht nur an dieser Stätte findet.
Friede war für Kant, wie der Frankfurter Philosophie-Professor Marcus Willaschek in seinem kürzlich erschienenen Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“schreibt, das wichtigste Ziel der Politik und zugleich ein wesentlicher Zweck seiner eigenen Philosophie.
Kant sieht den Frieden nicht in erster Linie deshalb als hohes Gut, weil er Leid verhindert, sondern weil nur er die Voraussetzung dafür bietet, dass die Rechte der Menschen verlässlich geschützt werden. In einem fingierten Friedensvertrag führt er aus, worauf sich ein „ewiger Friede“gründen müsse: Alle Staaten sollen Republiken sein, also das, was man heute unter gewaltenteiligen, repräsentativen Demokratien versteht. Alle Staaten müssen einer globalen Föderation beitreten, die das Völkerrecht sichert. Und es muss ein allgemeines „Weltbürgerrecht“geben. Diese Ideen gingen unter anderem in die Gründung des Völkerbunds (1920) ein, der immer wieder einzelne Kriege verhindert oder beendet hat, und in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
Als Kant 1795 „Zum ewigen Frieden“als sein erstes grundlegendes Buch zur politischen Philosophie veröffentlichte, war er mit 71 Jahren bereits ein alter Mann und stand im Zenit seines Ruhms, den sein wichtigstes Werk, die „Kritik der reinen Vernunft“, ausgelöst hatte. Zehn Jahre lang hatte er daran gearbeitet, von 1771 bis 1781 – Jahre des Schweigens in der Öffentlichkeit, des Rückzugs in die Wissenschaft. In der „Kritik der reinen Vernunft“spricht er eine Sprache, die auf Genauigkeit zielt und in der die Worte wie in Stein gemeißelt erscheinen.
Kant steht dem Christentum schon aufgrund seiner pietistischen Erziehung nicht fern, zumindest in Fragen der Moral. In seiner zweiten Kritik, der „Kritik der praktischen Vernunft“(1788), gelangt er zu folgendem Schluss: Zwar ist es der Vernunft unmöglich, Gegenstände a priori zu erkennen; wohl aber kann sie den Willen des Menschen und sein praktisches Verhalten bestimmen. Dabei stellt sich heraus: Der Mensch steht seinem „empirischen“, in der Erfahrung wurzelnden Charakter nach unter dem Naturgesetz, folgt den Einflüssen der Außenwelt, ist unfrei.
Seinem „intelligiblen“Charakter gemäß aber ist er frei und nur nach seiner praktischen Vernunft ausgerichtet. Daraus leitet Kant seinen berühmten „kategorischen Imperativ“ab: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“Volkstümlich ausgedrückt: Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg auch keinem andern zu.
Diese Ethik ist keine rein gesellschaftliche Vereinbarung, sondern sie gründet sich auf die Freiheit des sittlichen Tuns. Gott ist dabei der Garant der Sittlichkeit.
Kant, der große Aufklärer, war also kein gottloser Philosoph. In seiner Schrift „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“(1793) stellt er fest, Religion sei nichts als der Inbegriff aller unserer
Pflichten, die uns göttliche Gebote auferlegen, und Gott so viel wie das höchste Ideal. Alle religiöse Organisation dagegen, Dogmatik und bloß äußerliche Religionsausübung, sei lediglich Religionswahn und „Afterdienst“. Kein Wunder also, dass die Kirchen sich nur mühsam mit Kant anfreunden.
Kants drittes kritisches Werk, die „Kritik der Urteilskraft“(1790), befasst sich vor allem mit der Ästhetik – besonders des Schönen, des Erhabenen und des Genies. Schönheit besteht Kant zufolge in bestimmten „Vollkommenheiten“des wahrgenommenen Gegenstands, die wir aber nicht denkend, sondern mit unseren fünf Sinnen erfahren. „Schön“nennt er Gegenstände, die unser „uninteressiertes Wohlgefallen“wecken.
Kant war philosophischer Ästhet, aber kein Kunstliebhaber. Das Haus, das er erst in fortgeschrittenem Alter erwarb, war schmucklos und schlicht. Zu Kunst, Theater und Musik hatte er ein distanziertes Verhältnis. Allein die Literatur lag ihm am Herzen. Insgesamt aber zog er das Schöne in der Natur den Erzeugnissen der Künste vor.
Vor allem mit der „Kritik der reinen Vernunft“hat Kant Bleibendes geschaffen. Wir wollen jedoch auch das Unrühmliche erwähnen, dass sich hinter seinem Ruhm verbarg: seinen Antisemitismus, seinen Rassismus, sein herablassendes Verhalten gegenüber Frauen und seine Ablehnung von Homosexualität. Überstrahlt wird dies aber vom kategorischen Imperativ und von der Maxime des Selbstdenkens in der Definition der Aufklärung: „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“.
Heute feiert die geistige Welt Kant als bedeutendsten Philosophen der Neuzeit – und arbeitet sich noch immer an seinen wesentlichen Fragen ab: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?