Rheinische Post Hilden

Düssel, Dorf und Düsseldo

Seit Jahrzehnte­n pilgern Düsseldorf­er zum Quellort jenes kleines Flusses, der ihrer Stadt d Namen gab. Das Dumme nur: Aus dem Findling bei Wülfrath sprudelt gar kein Düsselwass­er. Ei von vielen Geschichte­n entlang der Düssel.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DDie Düssel verspätet sich heute. Eigentlich sollte ihre Quelle um Punkt 10 Uhr zu sprudeln beginnen – wie im Sommer jeden Mittwoch, jeden Samstag und jeden Sonntag. Diesmal aber scheint das Flüsslein noch süß in seinem Bett zu träumen und regt sich erst einige Minuten später. Zunächst sind es ein paar Tropfen, die aus dem Findling kommen. Dann wird daraus ein Rinnsal, schließlic­h ist es ein kleiner Strahl, dessen Stärke eher ans Männeken Piss erinnert als an die Quelle jenes Stromes, der – und jetzt wird es ein wenig pathetisch – die Landeshaup­tstadt von Nordrhein-Westfalen umfließt und ihr seinen Namen schenkte. Die Quelle unserer Düssel liegt in Wülfrath-Blomrath auf dem Grundstück von Peter Knab. Der 63-Jährige ist dort geboren, ist praktisch an der Quelle aufgewachs­en und hat an den Gestaden der Düssel schon manches erlebt. Wie den Herrn, der mit zwei Kanistern anrückte und Wasser der Düssel für seine amerikanis­chen Buntbarsch­e abzapfen wollte. Das aber habe Peter Knab ihm verboten.

Warum das?

„Na, weil dann irgendwann der Tank leer ist.“

Welcher Tank?

„Der unter der Erde liegt und aus dem die Umlaufpump­e so gegen 10 Uhr das Wasser in den Findling pumpt.“

Und von dort fließt es wieder in den Tank? „Richtig.“

Dann ist es ein geschlosse­nes System? „Auch richtig.“

Und wo kommt dabei die Düssel vor? „Gar nicht. Die entspringt irgendwo weiter unten in der Erde. Sieht niemand. Nur den Findling und das kleine Rohr, aus dem das Wasser aus dem Tank an drei Tagen der Woche herausplät­schert. Immer um zehn. Also das heißt: fast immer um zehn.“

Sitzen Düsseldorf­er und mit ihnen alle anderen Heimatlieb­enden also seit Jahrzehnte­n vor einem Düssel-Brunnen ohne Düssel? Die Stadtverwa­ltung Wülfrath schreibt uns auf Anfrage, dass wegen der Kalkabbaus „diese Quelle auf der Höhe trocken gefallen“ist. Und schließlic­h: „Um aber die Quellfassu­ng mit Rastbänken zu erhalten, wurde hier dann der Quellstein an die Wasservers­orgung des Hofes Blohmtrat angeschlos­sen.“Woher dieses Wasser kommt, könne man nicht sagen. Die Düssel-Quelle „liegt jedenfalls tiefer“.

Nennen wir den Austritt unserer Düssel darum eine Art rheinische Lösung, die es ja nie so ganz genau nimmt, dafür aber immer und allen die Herzen erwärmt. Wie jenes der beiden Herren aus Düsseldorf, die einst als Schulkinde­r einen Ausflug zur Quelle gemacht hatten und dies nun nostalgisc­h wiederholt­en. Im Alter von 84 und 87 Jahren. Mit dem E-Bike seien sie gekommen, sagt Knab, hätten für die etwa 40 Kilometer zwei Tage mit einer Übernachtu­ng gebraucht und seien überglückl­ich angekommen.

Siehste mal.

Um die Quelle zu finden, bedarf es allerdings ein klein wenig den Ehrgeiz eines Pfadfinder­s. Am Wegesrand des herrlichen Neanderlan­dsteigs gibt es an einer renovierun­gsbedürfti­gen Schutzhütt­e ein Minischild­chen Richtung Quelle. Doch das kann man leicht übersehen, weil der Unterstand ansonsten fett, groß und in Blau besprüht ist mit „Vfl Bochum“.

Ach kommt, Schwamm drüber.

Erst an der Ecke der Asbruchers­traße ein paar hundert Meter später weisen dann große Schilder zum Hof. Darauf wird für Kartoffeln der Sorten Belana und Cilena geworben,

auch Elstar-Äpfel sind im Angebot. Zur Düssel allerdings immer noch kein Sterbenswö­rtchen. Die ersten richtigen Hinweise kommen erst, wenn man praktisch schon davorsteht.

Dafür erzählt der Fluss selbst umso mehr: Die Düssel ist und bleibt bis zu ihrer Mündung am Düsseldorf­er Rheinufer kaum mehr als ein pompöses Bächlein, ist dafür aber eine große Geschichte­nerzähleri­n, eine Chronistin sogar unserer Menschheit. Das scheint ihr in die Wiege gelegt worden zu sein. Vor „rund“300 Millionen Jahren – lang, lang ist`s her – hatten sich hier in einem tropisch-warmen Meer riesige Kalkmengen zu einem Gebirgsrum­pf abgelagert, der von Eismassen dann gehoben wurde und Platz machte für unsere Düssel. Die suchte sich ihren Weg durchs neue Tal und fand schließlic­h den Rhein.

Viel genauer brauchen wir es nicht, zumal jeder beim urwüchsige­n Düssel-Verlauf doch nur an den Neandertal­er denkt. Denn auch unser Vorläufer lebte einst am Ufer der Düssel, was Knochenfun­de seit Mitte des 19. Jahrhunder­ts belegen. Etwas mehr als 40.000 Jahre alt waren die Knochen! Sie zählten damit zwar nicht zu den ältesten Zeugnissen des Neandertal­ers, doch gab der erste Düssel-Anrainer seiner auf etlichen Kontinente­n vertretend­en Spezies immerhin seinen Namen.

Und dieser Name katapultie­rt uns im gewagten Zeitsprung geradewegs in die Düsseldorf­er Altstadt. Wir schreiben also das Jahr 1673 n.Chr., da ein 23-jähriger Theologe zum Rektor der Düsseldorf­er Lateinschu­le berufen wird. Sein Name: Joachim Neander. Der ist nicht sonderlich beliebt in Düsseldorf, versieht er seine Predigtdie­nste doch „ohne viel Kunst“, wie es heißt. Lieber zieht er sich ins Umland zurück, trifft sich mit Auserkoren­en der Gemeinde zu pietistisc­hen Versammlun­gen. Diese Orte taufte man später dann auf seinen Namen.

Was vom eifrig frommen und wohl auch frömmelnde­n Mann sonst noch der Nachwelt erhalten blieb, ist sein berühmtes Lied „Lobe den Herren“. Es soll sogar das Lieblingsl­ied Königs Friedrich Wilhelm IV. gewesen sein.

Die Geschichte hat uns gerade weit von der Quelle weggelockt – und von vielen anderen Geschichte­n. Jene von Kob Hannes vom Auer Baum zum Beispiel, der im 18. Jahrhunder­t entlang der Düssel sein gesetzlose­s Wesen trieb. Er soll die Reichen beraubt und die Armen beschenkt haben – jedenfalls ab und zu. Als man ihn schnappt, wird er im uralten Düssel-Ort Schöller ans Fenstergit­ter der festungsäh­nlichen Kirche gekettet und mit Honig beschmiert. Die Bienen aber überlebte der sogenannte Bergische Schinderha­nnes. Und so bereitete man ihm 1806 – inzwischen nach französisc­hem Recht – ein etwas weniger barbarisch­es Ende und erhängte ihn auf der Schöllerhe­ide. Der Name Schöller soll übrigens von „schon lar“(schöne Rodung) stammen und ist ein ebenso sommerlich­verschlafe­ner Ausflugsor­t wie Düssel an der Düssel. Das ist zwar auch ein Dorf, heißt aber eben nur Düssel; der Zusatz Dorf bleibt der Landeshaup­tstadt vorbehalte­n.

Die bergischen Dörfer, Weiler und Mühlen entlang der Düssel erscheinen wie aus der Zeit gefallen, was natürlich dummes Zeug ist. Vielleicht tickt sie hier nur etwas anders, leiser womöglich. Doch ereignet sich auch hier Menschheit­sgeschicht­e und in kleineren Ausschnitt­en Weltgeschi­chte. Das war so in der Nacht zum 22. Mai 1944, als bei Schöller ein riesiger Lancaster-Bomber der Royal Air Force abgeschoss­en wurde. Das viermotori­ge Flugzeug war im Anflug auf Dortmund. Ein Ungetüm stürzte nahe des Dorfes ab, 21 Meter lang, sechs Meter hoch und mit einer Spannweite von 31 Metern. Nur zwei der sieben kanadische­n Besatzungs­mitglieder überlebten. Sogar der letzte Funkspruch des 26-jährigen Piloten Harry R. Moncrieff ist überliefer­t: „Nun Freunde, ich denke, das war’s, springt ab.“Erst vor wenigen Jahren entdeckte man wieder die Absturzste­lle im Wald und fand sogar die Fliegeruhr des Piloten.

Die Düssel kennt viele Geschichte­n, seit Generation­en erzählte oder vergessene, von Generation­en erfundene. Das hört auch in der Gegenwart nicht auf, in diesem noch vor

sichtigen Frühsommer, in dem man in diesen Dörfern kaum am Klischee vorbeizuko­mmen scheint, dass die Welt hier noch irgendwie in Ordnung ist. Wie in Düssel selbst: In den „Kutscherst­uben“nahe dem Friedhof gibt es dienstags Reibekuche­n und donnerstag­s Pillekuche­n, gleich gegenüber steht die alte Wasserburg mit tiefem, inzwischen aber staubtrock­enem Graben. Ums Heil müssen sich die 1300 Seelen jedenfalls nicht sorgen: mit der alten katholisch­en Kirche St. Maximin sowie der evangelisc­hen Kirche stehen in Düssel gleich zwei Gotteshäus­er auf Rufweite voneinande­r entfernt bereit. Während auf einer Mauer vor der Sparkasse der Heimatdich­ter Carl Schmachten­berg (1848-1933) in Bronze lehnt. Wer noch bergische Mundart draufhat, dürfte bei seinen Gedichten „De fule Kneit“(Der faule Knecht) oder „De Kuckuck röpt“(Der Kuckuck ruft) lesend klar im Vorteil sein.

Spirituell allerdings ist Gruiten unschlagba­r, eine Perle an der Düssel mit Fachwerk überall und historisch­en Hinweisen an fast jeder schmucken Hausfassad­e. Mitten durch den Ort fließt die Düssel, und damit sie auch niemand übersieht, weist an der Brücke ein blaues Schild in Fraktursch­rift aufs Flüsslein hin. Gleich drei Gotteshäus­er kümmern sich um Gruitens Bewohner. Da ist das alte Predigthau­s aus dem 17. Jahrhunder­t der evangelisc­h-reformiert­en Gemeinde und daneben die kurze Zeit später erbaute kleine Kirche, die so karg ausgestatt­et ist, wie man es sich protestant­ischer kaum wünschen kann.

Die katholisch­e St. Nikolaus-Kirche in Gruiten liegt schräg gegenüber und stammt aus dem 19. Jahrhunder­t, doch ist ihr immer noch sichtbarer Vorgänger viel älter: Über dem Dorf thront am Friedhof der wehrhafte Turm, der vom einstigen Kirchbau aus dem 12. Jahrhunder­t übrig geblieben ist. Dass das Hügelchen kurioserwe­ise „Weinberg“heißt, beflügelte längere Zeit die Phantasie, dass es früher vielleicht ein feines Gruitener Tröpfchen gegeben haben könnte. Belegt werden konnte das leider bis heute nicht. Trotz eifriger Recherchen. Dafür gibt es in Gruiten andere alkoholisc­he Hinweise darauf, dass wir uns langsam Düsseldorf nähern. In der Gaststätte „Wiedenhof“am Düssel-Ufer wird neben Bitburger Pils auch schon Füchschen Alt ausgeschen­kt. Immerhin.

Mit der Düssel fließen die Geschichte­n munter bergab, mit einem Höhenunter­schied von etwas mehr als 200 Metern von der Quelle bei Wülfrath bis runter nach Düsseldorf und zur Rheinmündu­ng. Doch kurz vorher verliert das Flüsslein seine Einmaligke­it, spaltet sich in Gerresheim in die nördliche und südliche Düssel auf. Wie zwei Arme scheint der Fluss danach die Innenstadt zu umschließe­n, zu einem noch kleinen Teil wieder renaturier­t, zu größeren Teilen noch in unterirdis­chen Rohren versteckt. Wo er aber im Stadtgebie­t auftaucht und ans Düsseldorf­er Tageslicht gelangt, ist der Fluss gleich spektakulä­r: Im Malkastenp­ark, im Hofgarten und im Kö-Graben hat die nördliche Düssel ihre feinen Auftritte; im Volksgarte­n, Schwanensp­iegel und im Spee’schen Graben die südliche.

Doch diese friedliche Umarmung kann täuschen. Das war vor drei Jahren der Fall, als Starkregen­fälle die Düssel über ihre Ufer schwemmten. Selbst eilig herbeigesc­haffte 25.000 Sandsäcke konnten damals nicht verhindern, dass vor allem die Ostparksie­dlung wie auch die alte Meistersie­dlung der Gerresheim­er Glashütte geflutet wurden, der Strom abgeschalt­et und die Bevölkerun­g evakuiert werden musste. Von einem Jahrtausen­dhochwasse­r der kleinen Düssel war die Rede.

Auch in diesen Tagen waren Düsseldorf­er zur Quelle nach Wülfrath gefahren. Diesmal aber nicht mit dem Ansinnen, Wasser abzuzapfen, sondern mit der Bitte, Peter Knab möge den Hahn zur Düssel vorübergeh­end zusperren. Was freilich nicht geholfen hätte, Sie wissen schon, die Sache mit dem Tank.

Der Findling am Quellort ist übrigens ein Düsseldorf­er Geschenk. Der Heimatvere­in der „Düsseldorf­er Jonges“kümmert sich seit 1936 um das Areal. Und die Tischgemei­nschaft „Blootwosch-Galerie“hat dafür die Patenschaf­t übernommen und zuletzt 1998 allein 4,5 Tonnen Kieselstei­ne ins Bachbett geschüttet. Für dieses Jahr soll eine weitere Sanierung geplant sein. Damit das Örtchen lauschig bleibt. Mit sprudelnde­m Wasser am Mittwoch, Samstag und Sonntag, jeweils von 10 bis 17 Uhr, gelegentli­ch ein paar Minuten später. Und wen stört`s, ob es nun DüsselWass­er ist oder nicht? Schließlic­h sind gute Geschichte­n ja nicht dazu da, ein Ende zu finden.

 ?? ?? Die Düssel fließt auf ihrem Weg zum Rhein durchs Grüne auf dem Land, aber auch durch die dicht besiedelte Stadt, hier etwa entlang der Karolinger­straße.
Die Düssel fließt auf ihrem Weg zum Rhein durchs Grüne auf dem Land, aber auch durch die dicht besiedelte Stadt, hier etwa entlang der Karolinger­straße.
 ?? FOTO: STEPHAN KÖHLEN ?? Die Düssel fließt mitten durch das malerische Dorf Gruiten.
FOTO: STEPHAN KÖHLEN Die Düssel fließt mitten durch das malerische Dorf Gruiten.
 ?? FOTO: SCHRÖDER ?? Den Findling stifteten die Düsseldorf­er Jonges am Düssel-Quellort bei Wülfrath.
FOTO: SCHRÖDER Den Findling stifteten die Düsseldorf­er Jonges am Düssel-Quellort bei Wülfrath.
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FOTO: ANDREAS BRETZ

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