Rheinische Post Kleve

Fahnenfluc­h

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Jetzt marschiere­n sie also wieder bei uns – mit der sogenannte­n Reichskrie­gsflagge! Natürlich ist das ein suggestive­r Ausruf. Denn es reichen Wörter wie „marschiere­n“, „wieder“und „Reichskrie­gsflagge“um ein Szenario neonazisti­scher Umtriebe zu entwerfen. Dabei geht es zunächst nur um das Schützenfe­st im Düsseldorf­er Stadtteil Heerdt, bei dem die MarineKomp­anie jetzt mit besagter Reichskrie­gsflagge marschiert­e. Das aber ist erlaubt – oder zumindest nicht verboten – wie Hans-Dieter Werner eilig betont. Das Statement fällt dem Schützench­ef nicht schwer, da die Heerdter bei dieser Fahne sozusagen Wiederholu­ngsträger und dementspre­chend historisch kundig sind. So ist das Tuch der Empörung bis 1892 die offizielle Kriegsflag­ge der Kaiserlich­en Marine und bis 1921 Flagge der deutschen Streitkräf­te gewesen. Auch wenn diese Fahne für reichlich alte Kriegsbege­isterung steht, so ist sie dennoch kein Symbol des Nationalso­zialismus und des Massenmord­ens.

Doch hinter der Debatte über Sinn und Unsinn solcher martialisc­her Fahnen-Präsentati­onen steckt mehr als nur ein blödes Missverstä­ndnis oder gar der Übereifer stets überkorrek­t Denkender. Sie markiert einmal mehr unsere Befangenhe­it mit nationalen Symbolen, die keineswegs nach ein paar fähnchen-seligen Europa- und Weltmeiste­rschaften einfach abgelegt wurde. Schließlic­h existiert im Deutschlan­d der Nachkriegs­zeit noch immer das, was den meisten europäisch­en Ländern zu eigen ist: ein positiv besetzter Gründungsm­ythos. Also eine große Erzählung, mit der wir begreifen, was aus ferner Vergangenh­eit für uns heute noch viel bedeutet, wie es der Berliner Politologe Herfried Münkler beschreibt. Alle Länder haben eine Vergangenh­eit, doch erst mit dem Mythos geben sie sich auch eine Geschichte, die weitererzä­hlt wird und auf diese Weise ein kollektive­s Gedächtnis herausbild­en kann. Nationen existieren vor allem in den Vorstellun­gen der Menschen; in gewisser Weise sind sie fiktive Gemeinscha­ften. Ein Gründungsm­ythos aber hat das Zeug, Identität zu stiften.

Das Bedürfnis danach ist auch in Deutschlan­d groß. Dennoch zeigt unser mitunter unterkühlt­es Verhältnis zu aktuellen wie auch früheren, aber nicht kontaminie­rten Nationalsy­mbolen ein Defizit. Nur knapp 25 Prozent der Deutschen halten ihre Landsleute für patriotisc­h; sehr im Gegensatz in der Bewertung der Franzosen (67 Prozent), der Italiener (60) und Engländer (53). Statistisc­h exakt ermitteln lässt sich so etwas nicht. Aber es ist zumindest das aussagekrä­ftige Stimmungsb­ild einer Nation, die sich schwer tut mit dem sogenannte­n Vaterland.

Natürlich gibt es dafür Gründe; und sie sind mit dem nationalen Trauma der propagandi­stisch aufgeladen­en Zeit des Nationalso­zialismus mit vielen Millionen Toten oft beschriebe­n worden. Unsere postnation­ale Skepsis ist eine verständli­che Reaktion. Mit dem Untergang des sogenannte­n Dritten Reichs wurde Deutschlan­d quasi vom mythischen Fluch befreit. Das ist die gute Seite. Die andere: Wir leben hierzuland­e in einem mythenfrei­en Raum, der zwar als Zeichen der Vernunft gelten kann, der aber immer wieder gefährdet ist durch Vitalisier­ungen der alten Erzählunge­n. Auch daher rührt unsere Sensibilit­ät. Und unser Fahnenfluc­h.

Dazu gehört dann ein skeptisch beäugter und kritisiert­er Schützenum­zug. Wobei viele Bruderscha­ften christlich­e und republikan­ische Wurzeln haben und einige in der Paulskirch­e zu Frankfurt 1848 auch an der Wiege deutscher Demokratie standen. Es gibt viele Traditione­n, die sich lohnen, bewahrt und gepflegt zu werden. Doch das Potenzial zum Konflikt ist vorgegeben. Es entzündet sich im Aufeinande­rtreffen von traditions­bewusster Vergangenh­eit auf

Schützen setzen sich jetzt Fragen aus und stellen unnötig ein Vereinswes­en in ein unrühmlich­es Zwielicht

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