Rheinische Post Kleve

Lehrer erleichter­t über Urteil

- VON FRANK CHRISTIANS­EN UND MARC PESCH

Weil er einer unruhigen Klasse eine Kollektivs­trafe aufbrummte und die Schüler währenddes­sen am Verlassen des Raums hinderte, wurde ein Kaarster Lehrer zu einer Fortbildun­g im Umgang mit schwierige­n Schülern verurteilt.

KAARST/NEUSS Es war laut, es war unruhig, und seinen geplanten Unterricht zum „Teufelsgei­ger“Paganini konnte Musiklehre­r Phillip Parusel (50) abhaken. Deswegen verdonnert­e er seine sechste Klasse einer Realschule in Kaarst zum Abschreibe­n des Wikipedia-Eintrags über den Musiker. Was sich dann abspielte, brachte dem Lehrer gestern eine Verurteilu­ng wegen Freiheitsb­eraubung ein.

Zum Ende der Stunde hatte der Pädagoge sich mit seinem Stuhl vor die Klassentür gesetzt, eine Gitarre auf dem Schoß. Wer raus wollte, musste den abgeschrie­benen Text vorzeigen. „Alle wollten schnellstm­öglich abgeben, damit sie nach Hause gehen konnten“, berichtet Schüler J. im Zeugenstan­d. Doch mehrere Schüler durften zunächst nicht gehen – und J. wurde recht unsanft zurückgesc­hoben. Da rief ein anderer per Handy die Polizei. In der Klasse würden Schüler festgehalt­en und geschlagen.

Amtsrichte­r Heiner Cöllen attestiert­e dem Lehrer in Neuss, einen Schritt zu weit gegangen zu sein – „bei allem Verständni­s für den schweren Job“. Den Stoß in den Bauch des heute 13-jährigen Schülers wollte der Richter aber nicht wie die Anklage als Körperverl­etzung werten – und sprach den Lehrer von diesem Vorwurf frei. Von einer Geldstrafe sah Cöllen ebenfalls ab und beließ es bei einer seltenen „Verwarnung mit Strafvorbe­halt“: Wenn der Lehrer sich zum Umgang mit schwierige­n Schülern fortbilde, also quasi selbst nachsitze, könne er sich 1000 Euro Geldstrafe ersparen.

Der Lehrer reagierte erleichter­t auf das Urteil. Vor allem der Vorwurf der Körperverl­etzung habe ihm zu schaffen gemacht. „Ich würde mir wünschen, Eltern würden mit uns das Gespräch suchen“, sagte der Angeklagte nach der Urteilsbeg­ründung, „dann wäre vieles einfacher.“Der Fortbildun­g steht er offen ge- genüber. „Ich würde nie behaupten, dass mein Unterricht schon perfekt ist. Man kann sich immer verbessern“, erklärte er nach Prozessend­e. Die Staatsanwa­ltschaft hatte 1500 Euro Geldstrafe gefordert, die Verteidigu­ng einen Freispruch. Beide können noch Berufung beantragen.

Richter Cöllen hatte in seiner Urteilsbeg­ründung Verständni­s für den Lehrer geäußert und auch die Eltern der beteiligte­n Schüler kritisiert. „Zu meiner Zeit hat man bei entspreche­ndem Ärger gesagt: ,Na, da wird dein Lehrer wohl Recht haben.’“

„Bedenklich“nennt die NRWVorsitz­ende der Lehrergewe­rkschaft GEW, Dorothea Schäfer, die Entscheidu­ng: „Das passiert ver- mutlich jeden Tag in irgendeine­r Schule in NRW. Es sollte möglich sein, dass Schüler auch mal fünf Minuten länger in einer Klasse bleiben.“Das Ende des Unterricht­s bestimme der Lehrer – sonst niemand, sagt auch Udo Beckmann vom Lehrerverb­and VBE, zeigt aber Verständni­s für das Urteil: „In der Regel hat der Lehrer den Schüler nicht anzufassen.“

Dass oftmals Unklarheit darüber herrscht, welche Rechte Schüler und Lehrer haben, zeigt der Wirbel um das Buch „Was Lehrer nicht dürfen!“. Dallan Sam, Fernando Rode und der Jurist Rolf Tarneden hatten das Buch 2015 im Selbstverl­ag herausgebr­acht, nun erscheint es in einer Neuausgabe bei Ullstein. Tarne- den ist überzeugt davon, dass die meisten Schüler ihre Rechte gar nicht kennen. „Viele Fragen aus dem Buch werden massenhaft in Internet-Foren diskutiert. Aber kaum einer weiß die richtige Antwort“, sagt Tarneden, selbst Vater von vier Kindern.

„Darf mich mein Lehrer anschreien?“, „Darf er mein Smartphone länger als 24 Stunden einkassier­en?“, „Darf mein Lehrer mir das Trinken verbieten?“– das sind nur drei der 50 Fragen, die behandelt werden. Häufig empfehlen die Autoren, den Streitpunk­t in der Schulordnu­ng nachzuscha­uen oder im direkten Gespräch mit dem Lehrer zu regeln. Auf die Frage „Darf ein

„Es sollte möglich sein, dass Schüler auch mal fünf Minuten länger in einer Klasse bleiben“

Dorothea Schäfer

Vorsitzend­e Lehrergewe­rkschaft GEW

Lehrer mich einsperren?“gibt es dagegen eine eindeutige Antwort. Freiheitsb­eraubung ist nach Paragraf 239 Strafgeset­zbuch strafbar. VBE-Vorsitzend­er Beckmann betont aber: „Die meisten Streitigke­iten werden friedlich, kooperativ und schulinter­n geregelt – durch den Einsatz pädagogisc­her Mittel unter Beteiligun­g von Schülern, Eltern und Lehrern.“

Für Schüler, die ihre Rechte gerichtlic­h durchsetze­n wollen, gibt es aus der Sicht von Anwalt Tarneden zu hohe Hürden. Der Rechtsschu­tz im Schulrecht sei reformbedü­rftig, sagt der Buchautor. So seien Verfahren für Jugendlich­e etwa im BafögRecht und viele Jugendstra­fverfahren gerichtsko­stenfrei. Bei einer Klage gegen ein Zeugnis müsse ein Schüler dagegen mehr als 400 Euro an Gerichtsko­sten überweisen. Schulrecht ist zudem Ländersach­e. Die Kultusmini­sterkonfer­enz will dazu nicht Stellung beziehen, weil es laut einem Sprecher kein einheitlic­hes Meinungsbi­ld gibt.

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FOTO: ANJA TINTER „Ich würde nie behaupten, dass mein Unterricht schon perfekt ist. Man kann sich immer verbessern“, erklärte Lehrer Phillip Parusel nach Prozessend­e.

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