Rheinische Post Kleve

Merkels Entscheidu­ng

- VON GREGOR MAYNTZ

Was in den Tagen geschah, bevor die Bundeskanz­lerin die Grenzen öffnete, um die in Ungarn festsitzen­den Flüchtling­e nach Deutschlan­d zu lassen. Damals begann ein Zuzug ungeahnter Größe.

Es ist Freitagmor­gen, der 4. September 2015, und der deutsche Innenminis­ter Thomas de Maizière liegt mit hohem Fieber im Bett. Vor knapp drei Wochen hat er die Schätzunge­n hochgeschr­aubt: Er erwartet nun nicht mehr 200.000 Flüchtling­e wie im Vorjahr, sondern 800.000. Vor einem Monat kamen erstmals über 1000 an einem einzigen Tag. Um auf 800.000 zu kommen, müsste sich diese Zahl also verdoppeln, verdreifac­hen, vervierfac­hen. Im Ministeriu­m gibt es die klare Erwartung, dass es an diesem Wochenende erstmals eine fünfstelli­ge Zahl werden könnte. Denn die Lage in Ungarn spitzt sich zu.

Freitagmit­tag in Budapest. Seit Wochen kampieren Tausende Flüchtling­e im und um den Hauptbahnh­of. Vor vier Tagen hat Ungarns Regierungs­chef Viktor Orbán einfach mal getestet, ob er die Dublin-Regeln brechen kann. Danach ist jedes Land, in dem ein Flüchtling erstmals europäisch­en Boden betritt, für dessen Asylverfah­ren zuständig. Doch Orbán schickte einen Zug voll mit Hunderten Verzweifel­ter nach München. Der kam durch, die Menschen wurden begeistert empfangen. Die Bilder gingen um die Welt. An diesem Freitag sagen sich um 13 Uhr über 1000 Flüchtling­e in Budapest: Wir gehen nun auch einfach mal los, begleitet von Journalist­en, die das live verbreiten. Sie kommen, teils auf Flip-Flops, rund 30 Kilometer weit – auf der Autobahn Richtung Österreich. Sie sind gespannt, was passiert.

Passiert ist viel in den Tagen zuvor. Die Nachricht von dem Schleuser-Lkw, in dem am 27. August nahe Wien 71 tote Flüchtling­e entdeckt werden, erschreckt ganz Europa. Und das Bild des dreijährig­en Aylan, dessen Leiche am 2. September an den Strand von Bodrum gespült wird, entwickelt sich zur Anklage gegen eine herzlose Flüchtling­spolitik. Dabei kommt seit Mai die Bundespoli­zei schon nicht mehr dazu, sämtliche Fingerabdr­ücke einreisend­er Flüchtling­e zu nehmen. Deutschlan­d hat keine komplette Übersicht mehr über den Verbleib der Flüchtling­e.

Im internatio­nalen Umfeld haben weitere Umstände dazu geführt, dass der Zustrom immer größer wird. Die Menschen, die noch in Syrien und in der Nachbarsch­aft ausharren, haben die Hoffnung verloren, dass sie absehbar in ihrer Heimat in Frieden leben können. Das letzte Geld setzen sie nun zunehmend auf das gut ausgebaute Schleusern­etzwerk entlang der Balkan-Route, um dem Elend zu entkommen. In Griechenla­nd spitzt sich die Regierungs­krise zu. Ministerpr­äsident Alexis Tsipras erklärt am 20. August seinen Rücktritt. Die ohnehin seit Jahren von den Flüchtling­en überforder­te griechisch­e Administra­tion wird kaum noch gesteuert. Auch in der Türkei sind die Innenbehör­den nicht voll einsatzber­eit, stehen teilweise unter den Nachwehen eines Korruption­sskandals, haben angesichts des endgültige­n Scheiterns einer Regierungs­bildung auch keine klaren Vorgaben. Am 21. August wird das Parlament aufgelöst. Ankara wie Athen sind vollkommen abgelenkt von der Flüchtling­sentwicklu­ng.

In dieser Situation kündigt Orbán den Bau eines riesigen Zaunes an. Im September soll die Grenze geschlosse­n werden. Alle, die an eine Flucht auf dieser Route je gedacht haben, müssen sich nun beeilen. Hunderttau­sende sind schon auf dem Weg. Viele weitere machen sich auf. Am 25. August will das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e in Deutschlan­d Unklarheit­en beseitigen und twittert die Nachricht in die Welt, wonach in Deutschlan­d für alle Syrer das Dublin-Verfahren faktisch ausgesetzt sei. Das wirkt elektrisie­rend. Es wird als Einladung gelesen: Alle Syrer in Deutschlan­d willkommen. Zu Tausenden werfen Bürger anderer Staaten ihre Pässe weg. Nun wollen alle Syrer sein. Syrer in Deutschlan­d.

Am Freitagabe­nd beendet Angela Merkel ihren NRW-Besuch. Kommunalwa­hlkampf in Essen, dann 70-Jahr-NRW-CDU-Feier in Köln. Österreich­s Bundeskanz­ler Werner Faymann telefonier­t mit ihr nach ihrer Rede gegen 20.15 Uhr. Er hat inzwischen die offizielle Ankündigun­g aus Budapest auf dem Tisch, dass da viele Flüchtling­e auf dem Weg nach Österreich seien mit Ziel Deutschlan­d. Reinlassen? Merkel will sich erst mit ihren Experten beraten. Während die Kanzlerin nach Berlin fliegt, schafft Orbán erneut Fakten, verfügt, dass die Flüchtling­e mit rund 100 Bussen an die österreich­ische Grenze gebracht werden sollen. Dann geht er Fußballguc­ken und ist stundenlan­g nicht mehr erreichbar.

In Luxemburg stecken bei einem Außenminis­tertreffen der deutsche, der österreich­ische und der ungarische Minister die Köpfe zusammen, beginnen gegen 22 Uhr, am Text einer Erklärung zu feilen. Minuten vorher hat sich Merkel entschiede­n, „ausnahmswe­ise“die Menschen reinzulass­en, weil sie als Alternativ­e nur das gewaltsame Vorgehen gegen die Flüchtling­e sieht. Und das will sie ihnen und der Öffentlich­keit nicht zumuten. Sie versucht, CSUChef Horst Seehofer zu erreichen. Der geht nicht an sein Handy. Auch auf weitere Versuche reagiert er nicht. Das gibt ihm, zufällig oder absichtlic­h, die Möglichkei­t, sich von der Entscheidu­ng zu distanzier­en. Aber fraglich bleibt, ob Merkel anders entschiede­n hätte, wenn Seehofer ihr in der Nacht zum Freitag bereits hätte sagen können, sie bekomme den „Pfropfen nicht mehr auf die Flasche“. Um 0.17 Uhr gibt Faymann die Entscheidu­ng bekannt. Das Wort „Ausnahme“ist enthalten. Auch das Wort „Notlage“. Auf Druck der Ungarn ist das Wort „humanitär“wieder rausgeflog­en.

Gegen 4 Uhr an diesem Samstag, dem 5. September, erreichen die ersten Busse die österreich­ische Grenze. Über 90 weitere sind bereits unterwegs. Um 13 Uhr kommen die ersten Flüchtling­e in München an. Zunächst wird mit 3000 bis 5000 gerechnet. Doch es werden immer mehr. Auch Privatleut­e holen jetzt Flüchtling­e mit Autos aus Ungarn. In Berlin entsteht der Eindruck, als versuche Österreich auch weitere auf den Weg nach Deutschlan­d zu bringen, die schon seit Längerem im Land sind. Bis zum Sonntagabe­nd sind es fast 20.000. In einem Telefonat mit Orbán unterstrei­cht Merkel, dass dies eine Ausnahme gewesen sei.

Während die Nachrichte­n voll sind mit einer fröhlichen Willkommen­skultur, berät Seehofer am Samstag mit der CSU-Spitze die Lage. Sie kommen zu dem Ergebnis: Das ist das falsche Signal. Bei der Feier zum 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß sagt Seehofer es am nächsten Vormittag auch öffentlich, dass die bayerische Polizei ihre Pflicht nicht mehr erfüllen könne. Anschließe­nd fliegt er mit der Nachricht zu einem Koalitions­treffen nach Berlin. Doch Merkel entscheide­t sich erneut anders. Am Montag der schicksalh­aften Woche, am 31. August, hat sie bei ihrer Sommerpres­sekonferen­z den Satz gesagt, an dem sich nun die Geister scheiden: „Wir schaffen das.“Am Tag nach der Ankunft der 20.000 spricht sie mit unserer Redaktion und legt sich erneut fest: „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze.“Und sie fügt hinzu: „Das gilt auch für Flüchtling­e, die aus der Hölle eines Bürgerkrie­gs zu uns kommen.“Während diese Sätze zu wirken begin

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Angela Merkel mer klarer, dass die „Ausnahme“vom Wochenende keine war. Und so entwickelt Bundespoli­zeichef Dieter Romann Szenarien für eine Grenzschli­eßung. Am Sonntag, dem 13. September 2015, soll die Entscheidu­ng fallen. Das Prinzip: Deutschlan­d macht dicht, löst einen Rückstau aus, so dass auch Österreich, dann Ungarn, dann Serbien und so fort dichtmache­n müssen.

Doch Merkel sieht die Hunderttau­sende, die längst auf der Route stecken. Außerdem gibt es im Kanzleramt Zweifel, ob es der Bundespoli­zei tatsächlic­h gelingt, nicht nur alle Straßen, sondern auch Hunderte Kilometer grüne Grenze über einen längeren Zeitraum zu sichern. Was ist, wenn eine größere Menge von Flüchtling­en einen Posten auf einer Wiese einfach überrennt? Oder die Situation in blutige Gewalt eskaliert? Die Regierung beschließt Grenzkontr­ollen, keine Grenzblock­aden.

Seehofer ist empört. Und Merkel markiert ihre Überzeugun­g umso deutlicher. Sie sagt: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldi­gen zu müssen, dass wir in Notsituati­onen ein freundlich­es Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“, erklärt sie am 13. September. Aber ihr Land verändert sich.

Orbán schickt einen Zug beladen mit Hunderten Verzweifel­ten nach München. Dieser

kommt durch „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze“

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