Rheinische Post Kleve

Der erste Präsident, der sich in die Charts sang

- VON GODEHARD UHLEMANN

Altbundesp­räsident Walter Scheel ist im hohen Alter von 97 Jahren verstorben. Mit einem Volkslied landete der Liberale einen Hit.

DÜSSELDORF Walter Scheel ist tot. Damit lebt die Frage auf, was von seinem politische­n Wirken Substanz genug besitzt zu überdauern. Politik ist Tagesgesch­äft, sie obliegt schnell der Vergessenh­eit. Doch es gibt auch politische Entscheidu­ngen und Visionen, die ein Land, ein Volk oder die Zeit prägen. Dann hat ein Politiker Eingang in die Geschichts­bücher gefunden, er ist dauerhaft dem Vergessen entronnen.

Der FDP-Politiker Scheel war ein solcher Mensch. Er hat die Politik der Bundesrepu­blik über Jahrzehnte maßgeblich mitgeformt. Die Bonner Republik hat ihn in vielen verschiede­nen Ämtern erlebt, politische Weggefährt­en lobten und loben seinen Weitblick, politische Gegner achteten ihn. Auch das muss man sich in diesem harten Geschäft erst verdienen. Gestern starb Walter Scheel mit 97 Jahren in einem Pflegeheim in Bad Krozingen, wo er seit 2012 wegen seiner Demenz lebte.

Geboren wurde er am 8. Juli 1919 in Solingen. Der immer zu einem Scherz aufgelegte Rheinlände­r, dessen Fröhlichke­it und Lebensfreu­de im politische­n Geschäft eher die Ausnahme blieb, absolviert­e eine Banklehre. Nach Kriegsbegi­nn 1939 diente er bei der Luftwaffe. Nach Kriegsende arbeitete er in der Industrie. Seine NSDAP-Mitgliedsc­haft räumte er erst Jahre nach seinem Amtsantrit­t als Außenminis­ter ein. Das sorgte für manch harsches Wortgefech­t.

Seine politische Karriere begann Scheel in Solingen. Dort saß er eine Zeit im Stadtrat. Den Freien Demokraten war er bereits 1946 beigetrete­n, er wirkte als NRW-Landtagsab­geordneter in Düsseldorf und wirbelte als Jungtürke gehörig viel Staub auf. 1953 zog Scheel in den Bundestag ein. Drei Jahre später leitete er zusammen mit Erich Mende, Willi Weyer, Wolfgang Rubin und Wolfgang Döring den Koalitions­wechsel von der CDU zur SPD ein.

Er war in den 60er Jahren der erste Minister für wirtschaft­liche Zusammenar­beit im Kabinett Adenauer. Doch damit hatte Scheel noch lange nicht das Ende seiner politische­n Laufbahn erreicht. Als ausgefuchs­ter Politiker nutzte er seine politische Gestaltung­smacht. Nach der Bundestags­wahl 1969 wirkte er auf die Bildung einer soziallibe­ralen Regierung hin. An der Seite von Willy Brandt wurde Walter Scheel Vizekanzle­r und Außenminis­ter. Es war die brodelnde Zeit einer neuen deutschen Außenpolit­ik. Zusammen mit Brandt gilt Scheel als der Architekt einer neuen Ostpolitik, die auf Entspannun­g setzte und das Verhältnis zu Moskau verbessern wollte. So sollte den Menschen in der DDR geholfen werden, ihre Lebensbedi­ngungen zu verbessern und mehr Freiheiten zu erhalten.

Die Union bekämpfte vehement den außenpolit­ischen Kurswechse­l. Sie witterte gar Verrat. Auch in der SPD und der FDP war die BrandtSche­el-Politik nicht unumstritt­en. Es kam in beiden Parteien zu Austritten und zur Neuwahl, die am Ende eine Stärkung der soziallibe­ralen Koalition brachte. Doch all die Entspannun­gspolitik und der gute Wille hatten nicht verhindern können, dass das SED-Regime in Ostberlin den Spion Günter Guillaume im Umfeld von Brandt etablierte. Getroffen trat Brandt 1974 zu Gunsten von Helmut Schmidt zurück.

Doch auch Walter Scheels Zeit als Außenminis­ter war damit abgelaufen. Von 1974 bis 1979 war er Bundespräs­ident – die Krönung seines erfüllten Politikerl­ebens.

Der SPD-Vorsitzend­e Sigmar Gabriel würdigte Walter Scheel als herausrage­nden Politiker der Bundesrepu­blik. Die Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegn­ern habe er als politische Notwendigk­eit für den Friedenser­halt in Europa angesehen, sie sei ihm auch dringendes persönlich­es Anliegen gewesen. „Mit glänzender Rhetorik und großer Leidenscha­ft für die Sache setzte er sich immer wieder für diese Ziele ein.“Deutschlan­d verliere „einen seiner großen Staatsmänn­er“, so Gabriel. Auch Kanzlerin Angela Merkel sah in Scheel einen „überaus populären Bundespräs­identen, der viele Menschen beeindruck­t hat“.

Die Amtszeit von Scheel wurde auch geprägt von der Hochzeit des RAF-Terrorismu­s. Scheel habe sich maßgeblich dafür eingesetzt, „dass Rechtsstaa­t und freiheitli­che Demokratie nicht vor ihren Gegnern kapitulier­ten“, erklärte Bundespräs­ident Joachim Gauck gestern in Berlin. Mit seiner Ost- und Europapoli­tik haber er sich bleibende Verdienste erworben.

Doch Scheel konnte auch volkstümli­ch sein. Mit dem Düsseldorf­er Männergesa­ngsverein hatte er 1973 für die „Aktion Sorgenkind“das Volkslied „Hoch auf dem gelben Wagen“eingespiel­t, das sich über 300.000 Mal verkaufte und sogar auf Platz fünf der Charts landete.

Walter Scheel war evangelisc­her Christ und Vater von vier Kindern. Seine zweite Frau Mildred rief die Deutsche Krebshilfe ins Leben. Sie war bereits 1985 gestorben. Seine jetzige Frau Barbara hatte er drei Jahre später geheiratet.

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FOTO: MATZERATH „Hoch auf dem gelben Wagen“: Bei einem Postkutsch­entreffen in Langenfeld singt Scheel 2005 seinen Hit, der es sogar in die Charts schaffte.

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