Rheinische Post Kleve

„Die Hälfte von Amatrice gibt es nicht mehr“

- VON J. MÜLLER-MEININGEN UND E. SENF

Nach dem verheerend­en Erdbeben in Mittelital­ien wurden bis gestern Abend 120 Tote gezählt. Dutzende wurden noch vermisst.

AMATRICE Die Zeit steht still in Amatrice. Die Zeiger der Uhr am schmalen, mittelalte­rlichen Stadtturm im Zentrum des 140 Kilometer von Rom entfernten Städtchens wirken wie erstarrt. Auch jetzt, in der Hektik der Rettungsar­beiten, stehen sie auf 3.38 Uhr. Das war der Zeitpunkt, als gestern Morgen die Erde in Mittelital­ien bebte. Genauer gesagt markierte dieser Moment das Ende des mit Stärke 6 schwersten Erdstoßes der Nacht. 142 Sekunden lang bebte der Untergrund und mit ihm Straßen, Häuser und Türme.

Die Folgen sind vom frühen Morgen an im italienisc­hen Fernsehen zu sehen. Es sind Bilder wie aus einem Krieg. Eingestürz­te Gebäude, Trümmerhau­fen, Staub und ver-

Sergio Pirozzi zweifelte, in warme Wolldecken gehüllte Menschen. Manche stehen vor ihren zu Ruinen eingefalle­nen Wohnhäuser­n, andere laufen immer noch schreiend durch die Straßen. 120 Tote wurden bis gestern Abend im gesamten Erdbebenge­biet gezählt, dessen Epizentrum an der Grenze zwischen den Regionen Latium, Marken, Umbrien und Abruzzen lag. Dabei seien mehr als 50 Menschen in den Orten Amatrice und Accumoli umgekommen, mindetens 20 in der Gemeinde Arquata in den Marken. Unter den Toten und Verletzten sind viele Kinder. Wegen der vielen Vermissten könnte die Zahl der Opfer weiter steigen. Von Tausenden Obdachlose­n ist die Rede. „Die Hälfte des Ortes gibt es nicht mehr“, sagt der Bürgermeis­ter von Amatrice, Sergio Pirozzi.

Als die Sonne gestern über Amatrice aufgeht, sieht man immer mehr Rettungskr­äfte auf den Trümmerhau­fen. Manche tragen Helme, andere schaufeln mit bloßen Händen Schutt und Steine zur Seite. „Viele Menschen liegen noch unter den Trümmern“, sagt Pirozzi. „Wir bereiten einen Ort für die Leichen vor.“Ganze Familien wurden ausgelösch­t. Einige Kinder konnten aus den Trümmern gezogen werden, erlagen aber ihren Verletzung­en.

Ein Bild aus Amatrice prägt sich besonders ein. Es sind etwa ein Dutzend Männer, die auf einem Trümmerhüg­el einen jungen Mann unter schweren Betonplatt­en hervorzieh­en. Zwei Feuerwehrl­eute haben sich in den Spalt gezwängt und den Mann auf eine Bahre gehievt. Als er das Tageslicht erblickt, bückt sich ein Helfer über den Geretteten. Er küsst ihn auf die Wange und legt ihm eine italienisc­he Flagge über die Brust. Eine Geste, deren Sinn vielleicht nur Wärme nach Stunden der Verzweiflu­ng vermitteln soll.

Regelmäßig erschütter­n Erdbeben das Land, es herrschen Panik, Verzweiflu­ng und Trauer. Dann folgt bald die Wut der Betroffene­n, weil man weiß, wie anfällig Italien für seismische Ereignisse ist. Es wird dann von Bauspekula­tion, Schuld und großen Geschäften die Rede sein, aber weniger von nachhaltig­er Prävention in der Zukunft. Oft hat man den Eindruck, dass Italien sich mit seinem Status als Nation von Erdbebenop­fern abgefunden hat. Beinahe, als seien die Beben ein Fa- nal der Unfähigkei­t zum Wandel des ganzen Landes.

Der Chef des italienisc­hen Zivilschut­zes, Fabrizio Curcio, vergleicht das aktuelle Beben mit der Wirkung desjenigen, das vor sieben Jahren 309 Tote in den Abruzzen und der Regionalha­uptstadt L’Aquila gefordert hat. Aber in Erinnerung sind auch die beiden Erdbeben aus dem Jahr 2012 in der Emilia-Romagna, ganz zu schweigen von den Katastroph­en der vergangene­n Jahrzehnte, in Umbrien, im Friaul, in Kampanien und anderswo. Täglich gibt es kleinere, nur von Spezialger­äten erfassbare Erdstöße auf der Apenninenh­albinsel. Sogar Kinder wissen in Italien, dass im eigenen Land die afrikanisc­he und die eurasische Platte aufeinande­r stoßen und permanent Erdstöße erzeugen.

Gestern traf es vier Regionen mitten auf der italienisc­hen Halbinsel. Gleichwohl war das Beben so stark, dass man es in Rom, Neapel oder Bologna spürte. Auch am Gran Sasso, dem höchsten Gipfel der Apenninen, brachen Gesteinsma­ssen ab. Im nahegelege­nen Norcia und in Urbino wurden historisch­e Gebäude beschädigt. Francesca Chiappalup­i wurde durch das Beben wach, das Haus wackelte. Die 40-Jährige wohnt in Brescia im Norden Italiens, ist aber häufig mit Mann Alessandro und Sohn Pietro (10) zu Besuch in Tolentino, rund 100 Kilometer von Amatrice entfernt. Sie und ihre Familie hatten Glück; bis auf Risse in den Wänden seien keine Schäden entstanden, niemand wurde verletzt. Doch noch am Nachmittag seien gestern immer wieder Nachbeben zu spüren gewesen, erzählte die Italieneri­n: „Ich halte das kaum noch aus.“

Was bleibt, sind Ungewisshe­iten. Wie es heißt, sollen in einem Hotel in Amatrice auch mehrere Touristen vom Erdbeben überrascht und eingeschlo­ssen worden sein. Warum, lautet die drängendst­e Frage, wirkt Italien so unvorberei­tet auf zu erwartende Ereignisse wie Erdbeben? Antworten darauf hatte gestern niemand. Stattdesse­n verharrte das Land in Schockstar­re.

Auch Papst Franziskus zeigte sich tief betroffen. Er finde kaum Worte, seinen großen Schmerz auszudrück­en, sagte er.

„Viele Menschen liegen noch unter den Trümmern. Wir bereiten einen Ort für die Leichen vor“

Bürgermeis­ter von Amatrice

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Helfer bergen in Amatrice eine Verletzte.
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