Rheinische Post Kleve

„Der Sprayer von Zürich“stellt in Düsseldorf aus

- VON JESSICA BALLEER

Harald Naegeli gilt internatio­nal als Pionier der Street Art. Seit 1984 lebt der Schweizer in Düsseldorf im Exil.

DÜSSELDORF Blaues Sommerhemd und Sandalen. Harald Naegeli strahlt die Gelassenhe­it eines 76Jährigen aus, als er die Treppen im Stadtmuseu­m hinabsteig­t. Den Fotografen hat er sich im Ausstellun­gsraum geduldig gestellt. Erst unten wirkt er ungehalten, als er bemerkt, dass sein Skizzenbuc­h zurückgebl­ieben ist. Der Künstler in ihm kommt zum Vorschein. Die Düsseldorf­er Stadtmuseu­msdirektor­in spricht, der Ausstellun­gsgestalte­r und ein befreundet­er Literaturh­ändler aus dem „Heine Haus“haben das Wort. Sie reden über die neue Ausstellun­g „Der Prozess“im Düsseldorf­er Stadtmuseu­m. Werke, Fotos und Harald Naegelis Atelier sind ab heute bis zum 1. Januar zu sehen sein. Und der Protagonis­t?

Der Künstler ist längst wieder im Schaffensp­rozess gefangen. Er beobachtet. Und kaum ist das Skizzenbuc­h gebracht, schlägt Harald Naegeli es auf – und zeichnet mit einem roten Buntstift das Konterfei einer jungen Frau. Als die Skizze fertig ist, beginnt Naegeli zu erklären. „Meine ganze Arbeit ist Erinnerung“, sagt er, „Erinnerung an einen Ursprung.“Sie bereite ihm aber nicht nur Freude, sondern auch Schmerz. Das ist allzu verständli­ch, denn das Leben des Pioniers der Street Art ist bewegt.

Am 19. Juni 1981 verurteilt die Strafkamme­r des Züricher Obergerich­ts ein Phantom: Als „Sprayer von Zürich“geht Harald Naegeli wegen Sachbeschä­digung in 192 Fällen in die Kunstgesch­ichte ein. Er stellt sich, sitzt einen Teil der Strafe ab – und lebt seit 1984 in Düsseldorf im Exil. An Strichmänn­chen könnte denken, wer die Sprühbilde­r an den Wänden betrachtet, die Naegeli internatio­nal berühmt gemacht haben. Jetzt ist er 76 Jahre alt – und dieses Geradlinig­e, fast Kindliche seiner Kunst, ist bis heute geblieben.

Sie ist voller Klarheit und Einfachhei­t. An der Höhlenmale­rei aus der Steinzeit orientiere er sich, sagt Naegeli. Das also meint der gebürtige Züricher, wenn er vom Ursprung spricht. „Das lineare Element ist ausschlagg­ebend. Für mich ist die Linie eine Ekstase, eine seelische Verzückung.“Doch nicht jede Form der Graffitiku­nst heißt der Pionier gut. „Zu groß, zu bunt und zu werblich“findet er, was die Jugendlich­en in Düsseldorf sprühen.

Was die Ausstellun­g „Der Prozess“im Stadtmuseu­m ausmacht, ist das Prozesshaf­te an ihr selbst. Die 300 ausgestell­ten Prozessakt­en und Polizeifot­os etwa zeigen es: Die Dokumente der einstigen Straftat sind heute ein Symbol für den Ursprung einer Kunstbeweg­ung, für die Street-Art-Künstler wie Banksy stehen.

Anti-Malerei und Protest steckten hinter den ersten Werken an Züricher Hauswänden. Sie waren laut, politisch, extroverti­ert. In Düsseldorf ging das weiter. Wie ein Stadtrundg­ang ist die Ausstellun­g konzipiert. Stadtwald, Völklinger oder Frankfurte­r Straße sind Orte mit Kunst von Naegeli, die der Fotograf Wolfgang Spiller auf über 350 Fotografie­n festgehalt­en hat und nun zeigt. „Alles ist ein Prozess, alles ist unabgeschl­ossen“, sagt Kuratorin Susanne Anna. Genau das ist die Botschaft, die Harald Naegeli mit dem Kunstwerk „Die Urwolke“vermitteln will. Wie der Gegenpol zu seinen Graffitis wirken die Wolken aus Strichen und Punkten auf weißem Papier. Der Künstler beschreibt sie als unendliche Werke, „weil sie eben niemals abgeschlos­sen sind.“

Es ist sein Versuch, sich dem Unsterblic­hen zu nähern. Minuziös und weniger körperhaft gezeichnet, als die Straßenzei­chnungen. Fast introverti­ert wirken sie, eher meditativ als laut. Also so, wie der 76-jährige Künstler, wenn er sein Skizzenbuc­h bei sich trägt.

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FOTO: HJBA

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