Vielleicht mag ich dich morgen
Bist du verhaftet worden und brauchtest ein neues Gesicht, um dich vor dem FBI zu verstecken?“„Ich habe mir überlegt, ein Muttermal entfernen zu lassen. Einen Blutschwamm, der den Satz Verpiss dich, James, du neugieriger Mistkerl bildet.“
„Klingt nach einem spannenden Thema. Ich würde die Rechte ans Chat Magazine verkaufen und damit Kohle machen: Mein spezielles Muttermal schlägt Liebhaber in die Flucht.“Seufzend wischte Anna sich die Augen ab. „Wenn du es unbedingt wissen willst, und leider hast du wahrscheinlich schon einen Verdacht, war ich vor einem Jahr irgendwie schlecht drauf und habe mir überlegt, ob ich eine Bruststraffung . . .“James rümpfte die Nase. Eine Nase, die ständig ausverkauft gewesen wäre, wenn man sie aus dem Katalog eines Schönheitschirurgen hätte bestellen können.
„Warum denn das? Ich bin sicher, dass du so, wie du bist, wunderbar aussiehst.“
„Ach, keine Ahnung, Katerstimmung vielleicht. Dieser Idiot, mit dem ich an der Uni gegangen bin, hat ein paar fiese Sachen gesagt. Aber da er zu fast allem an mir etwas Fieses anzumerken hatte, ist das eigentlich keine richtige Begründung.“
Anna wusste, dass sie wegen ihrer Kindheitserfahrungen in übertriebenem Maße dazu neigte, alles, was sie verunsicherte, auf ihr Äußeres zu schieben. Weshalb sie es tunlichst vermied, sich überhaupt mit diesem Thema zu befassen. Wahrscheinlich wollte sie auch mit ihrem Gammellook vermeiden, ihrem Äußeren zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Allerdings war ihr Busen das Einzige an ihr, das die überflüssigen Pfunde nicht unbeschadet überstanden hatte. Beim Abnehmen war er in sich zusammengefallen. Deshalb befürchtete sie, dass ihre Titten von der Seite aussahen wie „Umschlaglaschen“, um Aggys Bezeichnung aufzugreifen. Eine Pause entstand. „Also machst du es nicht?“, fragte James. „Wahrscheinlich nicht.“„Sehr gut, es ist nämlich absolut überflüssig.“
„Woher willst du denn das wissen?“
„Wenn dein Busen auch nur die geringste Ähnlichkeit mit Zuckerguss-Spritztüten hätte, würde die Krankenkasse die Kosten übernehmen. Dass du die OP selbst bezahlen wolltest, ist ein Beweis dafür, dass es nur Eitelkeit war.“
James Fraser warf ihr Eitelkeit vor? Das Leben schlug manchmal seltsame Kapriolen.
„Und wenn du glaubst, dass es Männer interessiert“, fuhr er fort, „abgesehen von deinem Ex, diesem Arschloch, der eben nichts weiter als ein Arschloch und ein Ex ist, vertrau mir: Es kümmert sie nicht.“
„Dass du annimmst, ich mache das nur den Männern zuliebe, ist Sexismus. Vielleicht tue ich es ja nur für mich.“
„Schon gut, bloß dass es nicht stimmt, richtig? Wenn Ryan Gosling als Vorsitzender der Jury deine Oberweite positiv bewerten würde, würdest du keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Also tust du es, um dich den Vorlieben imaginärer zukünftiger Männer anzupassen. Und das ist unnötig. Denn sie sind eindeutig imaginär.“„Ach, spitze, vielen Dank auch!“„Nein! Das habe ich falsch ausgedrückt. Ich meinte, ihre Vorlieben sind imaginär. Männer haben eine Schwarz-Weiß-Denke. Entweder stehen wir auf eine Frau oder nicht. Es funktioniert nicht wie eine Freundschaftsanfrage bei Facebook, bei der man wartet, bis man die zehn Punkte voll hat.“
„Und wer hat Ryan Gosling zum obersten Tittenrichter ernannt?“
„Ich mach dir einen Vorschlag. Zeig sie einfach stattdessen mir.“„Das ist doch nicht dein Ernst!“James nickte und rieb sich die Augen. Dann lehnte er sich mit verschränkten Armen zurück. „Guter Versuch!“, kicherte Anna. „Hey, du kannst dabei nur gewinnen. Entweder kriegst du ein Kompliment oder die neutrale Einschätzung eines unparteiischen Beobachters, dass eine OP deine einzige Rettung ist. Und bevor du es aussprichst, nein: Leute, die fünf Riesen damit verdienen, an dir rumzuschnippeln, sind keine unparteiischen Beobachter.“
„Nicht zu fassen!“Hmmm. Neutral. Unparteiisch. Er hätte ihr die dem Schwarz-Weiß-Prinzip folgende mangelnde Anziehungskraft nicht gleich auf die Holzhammermethode beizubringen brauchen.
„In der Klinik würdest du sie ja auch vor einer Horde von Fremden rausholen. Wo ist der Unterschied?“
„Dass es anonyme Mediziner wären, kein hackedichter James, der mich nur reinlegen will.“
„Mist, und ich dachte schon, ich hätte es geschafft. Aber das Angebot steht noch.“
Während sie wieder zu lachen anfingen, schoss Anna durch den Kopf, dass an diesem Abend unerwartet viele Körperteile unter die Lupe genommen worden waren.
James stellte das Buch zurück, ließ sich wieder aufs Sofa fallen und schaute sich im Zimmer um.
„Was ist denn das . . .? Das ist aber echt merkwürdig. Moment mal . . .“, murmelte er. Er reckte den Hals nach links und starrte quer durch den Raum auf einen Gegenstand, der in der Ecke unter dem Fuß von Annas uralter IKEA-Stehlampe klemmte. Im nächsten Moment sprang er auf und steuerte auf sein Ziel zu. Anna folgte ihm mit Blicken.
Falls es möglich war, innerhalb von vier Sekunden stocknüchtern zu werden, war es genau das, was in diesem Moment mit Anna geschah. Grund war ein Adrenalinstoß, so heftig, dass seine bloße Wucht sie beinahe vom Sofa katapultiert hätte.
Das Schulfoto war im DIN-A4Format und steckte in einem billigen Goldrahmen. Der getupfte Fotostudiohintergrund sollte wohl Schäfchenwolken an einem blauen Himmel darstellen. Das Bild war auf dem Höhepunkt von Aurelianas Horrorjahren entstanden.
Ihr krauses Haar wurde von einer länglichen Plastikspange in Krokodilsform oben auf dem Kopf zusammengehalten. Am Haaransatz waren einige Löckchen herausgerutscht und standen steil ab wie bei Struppis Freund Tim. Sie hatte versucht, die ganze Angelegenheit mit einem glibberigen Gel zu glätten. Doch das Ergebnis sah aus, als hätte sie es mit natürlicher Selbstreinigung anstelle von Haarewaschen versucht, wobei die reinigende Wirkung noch auf sich warten ließ. Alles in allem eine ausgesprochen unschmeichelhafte und verunglückte Frisur. Man musste wohl vierzehn sein, um so etwas auszuprobieren.
(Fortsetzung folgt)