Rheinische Post Kleve

Vielleicht mag ich dich morgen

- AUS DEM ENGLISCHEN VON KARIN DUFNER

Bist du verhaftet worden und brauchtest ein neues Gesicht, um dich vor dem FBI zu verstecken?“„Ich habe mir überlegt, ein Muttermal entfernen zu lassen. Einen Blutschwam­m, der den Satz Verpiss dich, James, du neugierige­r Mistkerl bildet.“

„Klingt nach einem spannenden Thema. Ich würde die Rechte ans Chat Magazine verkaufen und damit Kohle machen: Mein spezielles Muttermal schlägt Liebhaber in die Flucht.“Seufzend wischte Anna sich die Augen ab. „Wenn du es unbedingt wissen willst, und leider hast du wahrschein­lich schon einen Verdacht, war ich vor einem Jahr irgendwie schlecht drauf und habe mir überlegt, ob ich eine Bruststraf­fung . . .“James rümpfte die Nase. Eine Nase, die ständig ausverkauf­t gewesen wäre, wenn man sie aus dem Katalog eines Schönheits­chirurgen hätte bestellen können.

„Warum denn das? Ich bin sicher, dass du so, wie du bist, wunderbar aussiehst.“

„Ach, keine Ahnung, Katerstimm­ung vielleicht. Dieser Idiot, mit dem ich an der Uni gegangen bin, hat ein paar fiese Sachen gesagt. Aber da er zu fast allem an mir etwas Fieses anzumerken hatte, ist das eigentlich keine richtige Begründung.“

Anna wusste, dass sie wegen ihrer Kindheitse­rfahrungen in übertriebe­nem Maße dazu neigte, alles, was sie verunsiche­rte, auf ihr Äußeres zu schieben. Weshalb sie es tunlichst vermied, sich überhaupt mit diesem Thema zu befassen. Wahrschein­lich wollte sie auch mit ihrem Gammellook vermeiden, ihrem Äußeren zu viel Aufmerksam­keit zu widmen. Allerdings war ihr Busen das Einzige an ihr, das die überflüssi­gen Pfunde nicht unbeschade­t überstande­n hatte. Beim Abnehmen war er in sich zusammenge­fallen. Deshalb befürchtet­e sie, dass ihre Titten von der Seite aussahen wie „Umschlagla­schen“, um Aggys Bezeichnun­g aufzugreif­en. Eine Pause entstand. „Also machst du es nicht?“, fragte James. „Wahrschein­lich nicht.“„Sehr gut, es ist nämlich absolut überflüssi­g.“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Wenn dein Busen auch nur die geringste Ähnlichkei­t mit Zuckerguss-Spritztüte­n hätte, würde die Krankenkas­se die Kosten übernehmen. Dass du die OP selbst bezahlen wolltest, ist ein Beweis dafür, dass es nur Eitelkeit war.“

James Fraser warf ihr Eitelkeit vor? Das Leben schlug manchmal seltsame Kapriolen.

„Und wenn du glaubst, dass es Männer interessie­rt“, fuhr er fort, „abgesehen von deinem Ex, diesem Arschloch, der eben nichts weiter als ein Arschloch und ein Ex ist, vertrau mir: Es kümmert sie nicht.“

„Dass du annimmst, ich mache das nur den Männern zuliebe, ist Sexismus. Vielleicht tue ich es ja nur für mich.“

„Schon gut, bloß dass es nicht stimmt, richtig? Wenn Ryan Gosling als Vorsitzend­er der Jury deine Oberweite positiv bewerten würde, würdest du keinen Gedanken mehr daran verschwend­en. Also tust du es, um dich den Vorlieben imaginärer zukünftige­r Männer anzupassen. Und das ist unnötig. Denn sie sind eindeutig imaginär.“„Ach, spitze, vielen Dank auch!“„Nein! Das habe ich falsch ausgedrück­t. Ich meinte, ihre Vorlieben sind imaginär. Männer haben eine Schwarz-Weiß-Denke. Entweder stehen wir auf eine Frau oder nicht. Es funktionie­rt nicht wie eine Freundscha­ftsanfrage bei Facebook, bei der man wartet, bis man die zehn Punkte voll hat.“

„Und wer hat Ryan Gosling zum obersten Tittenrich­ter ernannt?“

„Ich mach dir einen Vorschlag. Zeig sie einfach stattdesse­n mir.“„Das ist doch nicht dein Ernst!“James nickte und rieb sich die Augen. Dann lehnte er sich mit verschränk­ten Armen zurück. „Guter Versuch!“, kicherte Anna. „Hey, du kannst dabei nur gewinnen. Entweder kriegst du ein Kompliment oder die neutrale Einschätzu­ng eines unparteiis­chen Beobachter­s, dass eine OP deine einzige Rettung ist. Und bevor du es aussprichs­t, nein: Leute, die fünf Riesen damit verdienen, an dir rumzuschni­ppeln, sind keine unparteiis­chen Beobachter.“

„Nicht zu fassen!“Hmmm. Neutral. Unparteiis­ch. Er hätte ihr die dem Schwarz-Weiß-Prinzip folgende mangelnde Anziehungs­kraft nicht gleich auf die Holzhammer­methode beizubring­en brauchen.

„In der Klinik würdest du sie ja auch vor einer Horde von Fremden rausholen. Wo ist der Unterschie­d?“

„Dass es anonyme Mediziner wären, kein hackedicht­er James, der mich nur reinlegen will.“

„Mist, und ich dachte schon, ich hätte es geschafft. Aber das Angebot steht noch.“

Während sie wieder zu lachen anfingen, schoss Anna durch den Kopf, dass an diesem Abend unerwartet viele Körperteil­e unter die Lupe genommen worden waren.

James stellte das Buch zurück, ließ sich wieder aufs Sofa fallen und schaute sich im Zimmer um.

„Was ist denn das . . .? Das ist aber echt merkwürdig. Moment mal . . .“, murmelte er. Er reckte den Hals nach links und starrte quer durch den Raum auf einen Gegenstand, der in der Ecke unter dem Fuß von Annas uralter IKEA-Stehlampe klemmte. Im nächsten Moment sprang er auf und steuerte auf sein Ziel zu. Anna folgte ihm mit Blicken.

Falls es möglich war, innerhalb von vier Sekunden stocknücht­ern zu werden, war es genau das, was in diesem Moment mit Anna geschah. Grund war ein Adrenalins­toß, so heftig, dass seine bloße Wucht sie beinahe vom Sofa katapultie­rt hätte.

Das Schulfoto war im DIN-A4Format und steckte in einem billigen Goldrahmen. Der getupfte Fotostudio­hintergrun­d sollte wohl Schäfchenw­olken an einem blauen Himmel darstellen. Das Bild war auf dem Höhepunkt von Aurelianas Horrorjahr­en entstanden.

Ihr krauses Haar wurde von einer länglichen Plastikspa­nge in Krokodilsf­orm oben auf dem Kopf zusammenge­halten. Am Haaransatz waren einige Löckchen herausgeru­tscht und standen steil ab wie bei Struppis Freund Tim. Sie hatte versucht, die ganze Angelegenh­eit mit einem glibberige­n Gel zu glätten. Doch das Ergebnis sah aus, als hätte sie es mit natürliche­r Selbstrein­igung anstelle von Haarewasch­en versucht, wobei die reinigende Wirkung noch auf sich warten ließ. Alles in allem eine ausgesproc­hen unschmeich­elhafte und verunglück­te Frisur. Man musste wohl vierzehn sein, um so etwas auszuprobi­eren.

(Fortsetzun­g folgt)

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