Rheinische Post Kleve

Flüchtling­e bleiben arbeitslos

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Am 14. September kommen die Vorstandsc­hefs der wichtigste­n deutschen Konzerne ins Kanzleramt. Die Regierungs­chefin hat sie eingeladen, oder besser: einbestell­t. Denn Angela Merkel (CDU) ist nicht zufrieden damit, dass sich die Unternehme­n bisher mit Einstellun­gen und Ausbildung­sverträgen für Flüchtling­e zurückhalt­en. Lediglich 54 Geflüchtet­en haben die 30 Dax-Unternehme­n bisher einen regulären Job gegeben, ergab eine Umfrage. Von 2700 Praktikums­plätzen blieben bei ihnen über 2000 unbesetzt.

„Wir schaffen das“, hatte die Kanzlerin dagegen am 31. August 2015 das erste Mal gesagt – und in diesem Sommer fast trotzig wiederholt. Doch bisher sieht es nicht danach aus, als ob die Wirtschaft „das“wirklich schaffen will. Es haben sich zwar einige Firmennetz­werke gebildet, die von der Regierung angestoßen wurden. Doch die Bemühungen selbst dieser vernetzten Arbeitgebe­r gehen kaum über ein Praktikums­angebot für einzelne Geflüchtet­e hinaus. Viele Unternehme­n nutzen ihre Mitgliedsc­haft im Flüchtling­snetzwerk und ihre Mini-Angebote eher als Marketing-Instrument – nach dem Motto: Schaut her, wir tun was.

Gemessen an dem, was getan werden müsste, angesichts der schnell wachsenden Zahl anerkannte­r erwerbsfäh­iger Flüchtling­e, sind die bisherigen Anstrengun­gen der Großuntern­ehmen lächerlich gering. „Wenn sich Flüchtling­e über Arbeit in Deutschlan­d integriere­n, ist das ein Gewinn für alle“, beschwor Merkel die Konzernlen­ker daher jüngst in einem Interview. Es hängt viel für sie ab vom Goodwill der Bosse: Im September 2017 wird gewählt. Die Wähler werden Merkel daran messen, ob sich ihr „Wir schaffen das“bewahrheit­et hat.

Wie groß der Job-Bedarf für Flüchtling­e ist, zeigen neue Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s. Netto 1,1 Millionen Zuwanderer kamen 2015 nach Deutschlan­d, darunter 900.000 Geflüchtet­e, die die Bevölkerun­gszahl auf 82,2 Millionen anschwelle­n ließen. Trotz der Schließung der Balkan-Route werden auch im laufenden Jahr bis zu 400.000 weitere Neuankömml­inge erwartet. 50 bis 60 Prozent erhalten den Schutzstat­us. Spätestens von diesem Zeitpunkt an stehen sie dem Arbeitsmar­kt zur Verfügung. Zum Jahresende 2016, sagt das Institut für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB) der Bundesagen­tur für Arbeit voraus, werde es bereits 620.000 anerkannte Flüchtling­e geben, die auf ihre Chance warteten. Auf diese hohen Fallzahlen haben sich bisher weder die Arbeitgebe­r noch die staatliche­n Bildungsei­nrichtunge­n eingestell­t. Hunderttau­sende drohen daher zu Langzeitar­beitslosen zu werden, deren Chance auf einen Job mit jedem Jahr geringer wird, in dem sie Hartz IV beziehen. Tempo und Umfang der Integratio­nsbemühung­en müssten daher deutlich ausgeweite­t werden, mahnt IAB-Experte Herbert Brücker.

Daten des Instituts zur Qualifikat­ionsstrukt­ur der Geflüchtet­en machen deutlich, wie immens die Integratio­nsaufgabe tatsächlic­h ist: 70 Prozent der überwiegen­d jungen Geflüchtet­en haben keine Berufsausb­ildung. Ein Viertel hat keine oder nur eine Grundschul­e besucht. 26 Prozent geben an, eine Mittelschu­le besucht zu haben. Immerhin 46 Prozent haben ein Gymnasium, eine Fachhoch- oder Hochschule besucht.

Bei allen drei Gruppen müssen neben den Deutschkur­sen gezielte Qualifizie­rungsstrat­egien ansetzen: Die schlechtes­te Gruppe braucht schulische Nachbildun­g, die mittlere vor allem Ausbildung­splätze und Coachings. Die beste Gruppe benötigt die schnelle Anerkennun­g ihrer Schul- und Hochschula­bschlüsse und einen leichteren Universitä­tszugang. Wenn es gelinge, wie bei früheren Migrations­wellen, nach sechs Jahren 50 Prozent der Flüchtling­e von 2015 in Arbeit zu bringen, sei das schon „ein Riesenerfo­lg“, sagt Brücker.

Angela Merkel

Für den Großteil kämen kurzfristi­g nur Helfertäti­gkeiten in Betracht. Doch einfache Jobs sind rar in einer hochtechno­logisierte­n Wirtschaft, die sich auch noch rasend schnell digitalisi­ert. Oft stehen Flüchtling­e auch unter großem Druck, Angehörige­n Geld nach Hause zu schicken. Eine schlechter entlohnte dreijährig­e Ausbildung lehnen viele daher ab. Ohne Berufsausb­ildung droht ihnen jedoch eine lebenslang­e Tagelöhner- oder Hartz-IV-Karriere. Die Vereinbaru­ng des Handwerks mit dem Bundesbild­ungsminist­erium, die darauf zielt, 10.000 jungen Flüchtling­en bis Ende 2017 durch vorbereite­nde Sprach- und Schulkurse die Ausbildung zu ermögliche­n, sollte daher Vorbild für weitere solche Vereinbaru­ngen sein.

Kritik an ihrem geringen Engagement hatten die Arbeitgebe­r schon mit dem Hinweis zurückgewi­esen, dass erst das Anfang August in Kraft getretene Integratio­nsgesetz die Einstellun­gsvorausse­tzungen klar verbessert habe. Vor allem die Drei-Plus-Zwei-Regel ist für Firmen interessan­t, die händeringe­nd Auszubilde­nde suchen: Flüchtling­e, die eine Ausbildung­splatzzusa­ge haben, erhalten danach unabhängig vom Ausgang ihres Asylverfah­rens einen Aufenthalt­sstatus für die volle, meist dreijährig­e Ausbildung­szeit. Im Anschluss können sie weitere zwei Jahre arbeiten.

Am 14. September will auch die Wirtschaft Merkel zu weiteren Schritten drängen. „Wir müssen sehen, wie wir die arbeitsmar­ktpolitisc­hen Instrument­e für Flüchtling­e und Langzeitar­beitslose noch besser nutzen, um diese gezielt für eine Ausbildung oder Beschäftig­ung fit zu machen“, sagt Steffen Kampeter, Hauptgesch­äftsführer der Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­rverbände. „Alle Instrument­e der Ausbildung­sförderung ab Abschluss des Ausbildung­svertrags müssen auch für alle Asylbewerb­er mit hoher Bleibepers­pektive und Geduldete zur Verfügung stehen“, fordert er. Und: „Durch eine vollständi­ge Aufhebung des Beschäftig­ungsverbot­s in der Zeitarbeit würden Menschen ohne Berufserfa­hrung deutlich bessere Chancen erhalten.“Merkel hat Gesprächsb­ereitschaf­t signalisie­rt.

„Wenn sich Flüchtling­e über Arbeit in Deutschlan­d integriere­n, ist das

ein Gewinn für alle“

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