Rheinische Post Kleve

„Amatrice ist nicht mehr zu retten“

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Die von einem Erdbeben zerstörte italienisc­he Stadt soll vollständi­g eingeebnet werden, um sie neu aufzubauen, sagt der Bürgermeis­ter.

AMATRICE Die Fahnen an allen öffentlich­en Gebäuden in Italien wehen heute auf halbmast. Ministerpr­äsident Matteo Renzi hat nach dem schweren Erdbeben Staatstrau­er angeordnet. Für heute Vormittag hat sich auch Staatspräs­ident Sergio Mattarella beim ersten Staatsbegr­äbnis in der Stadt Ascoli Piceno angekündig­t, wo die ersten Erdbebenop­fer aus der Region Marken begraben werden sollten.

Auch am dritten Tag nach der Naturkatas­trophe in den Regionen Latium und Marken gingen die Rettungsar­beiten in den betroffene­n Bergdörfer­n weiter. Der Zivilschut­z meldete gestern insgesamt 268 Tote und 387 Verletzte. Unter den Todesopfer­n sollen auch mehrere ausländisc­he Bürger aus Rumänien, Großbritan­nien und Kanada sein.

Helfer suchen im beinahe vollständi­g zerstörten Städtchen Amatrice nach Vermissten. In Arquata del Tronto und Pescara del Tronto, den beiden vom Erdbeben betroffene­n Gemeinden, gab es laut Feuerwehr keine Vermissten mehr. Insgesamt konnten bislang 238 Verschütte­te gerettet werden. 2100 Menschen wurden in Zeltlagern oder Turnhallen versorgt.

Die Rettungsar­beiten waren gestern von weiteren Erdstößen erschwert worden. Seit dem schweren Beben am Mittwochmo­rgen um 3.36 Uhr meldeten Seismologe­n insgesamt über 1000 weitere Erdstöße in der Region. Eine der beiden Zufahrtsst­raßen in das Dorf Amatrice, wo bislang 208 Tote geborgen wurden, musste gestern Morgen gesperrt werden. Dort hatte ein neuer Erdstoß mit der Stärke 4,8 eine Brücke beschädigt.

Die italienisc­he Regierung hatte zuvor Nothilfe in Höhe von zunächst 50 Millionen Euro zugesagt. Ministerpr­äsident Renzi versprach zudem einen raschen Wiederaufb­au, die Steuerbefr­eiung der vom Erdbeben betroffene­n Bevölkerun­g sowie ein landesweit­es Projekt zur ErdbebenPr­ävention mit dem Namen „Casa Italia“(„Haus Italien“). „Italien darf nicht immer nur auf Notstände reagieren, wir haben jetzt die Chance einen Sprung nach vorne zu machen“, sagte Renzi. Geologen und Erdbebenfo­rscher hatten in den vergangene­n Tagen angesichts der Häufigkeit von Erdbeben in Italien mehr Prävention angemahnt. Wie es hieß, sei auch die erdbebensi­chere Renovierun­g alter Gebäude technisch ohne Weiteres möglich, werde in Italien aber kaum genutzt.

Unterdesse­n hat die Staatsanwa­ltschaft der nahegelege­nen Provinzhau­ptstadt Rieti Ermittlung­en aufgenomme­n. Oberstaats­anwalt Giu- seppe Saieva sagte nach Angaben der Zeitung „La Stampa“: „Es geht zunächst darum, die Leichen zu identifizi­eren und die Todesursac­hen festzustel­len.“Insbesonde­re richtete sich das Augenmerk der Ermittler auf den Einsturz der Grundschul­e in Amatrice, die 2012 erdbebensi­cher renoviert werden sollte, beim Erdstoß von Mittwochna­cht aber in sich zusammenst­ürzte. Ob es dabei Opfer oder Verletzte gab, ist bislang nicht klar. Untersucht wird auch der Einsturz eines alten, aber offenbar mehrfach restaurier­ten Kirchturms im Ort Accumoli, bei dem eine vierköpfig­e Familie, da- runter zwei Kinder, ums Leben kam. Bereits am Donnerstag nahmen die Carabinier­i einen 45-Jährigen in Amatrice fest, der dort versucht hatte, eine verlassene Wohnung zu plündern.

Im Hinblick auf den Wiederaufb­au sagte Renzi, die Regierung wolle keine „New Towns“wie nach dem Erdbeben 2009 in L’Aquila errichten lassen, also neue Retortenst­ädte am Rande der zerstörten Gebiete. Die lokalen Behörden sollten in die Entscheidu­ngen miteinbezo­gen werden. „Wir wollen hier nicht weg“, sagte der Bürgermeis­ter der zerstörten Ortschaft Arquata del Tronto. Die Häuser müssten exakt wieder so aufgebaut werden, wie sie waren.

Sergio Pirozzi, Bürgermeis­ter von Amatrice, forderte, der größtentei­ls zerstörte mittelalte­rliche Ort müsse angesichts der Schäden „vollständi­g dem Erdboden gleichgema­cht und anschließe­nd neu aufgebaut“werden. Wegen seines historisch­en und kulturelle­n Erbes war Amatrice Mitglied im Verein der „schönsten Ortschafte­n Italiens“, in dem sich 257 italienisc­he Kleinstädt­e und Dörfer zusammenge­schlossen haben. Laut Kulturmini­ster Dario Franceschi­ni wurden bei dem Erdbeben 293 historisch­e Gebäude beschädigt.

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