Rheinische Post Kleve

WOCHENENDE 27./28. AUGUST 2016

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entlässt eine Neuaufnahm­e in die Welt, dass man nur staunt. Alles so klug hier, so überlegt – und doch so spontan.

Wenn man mit ihr spricht, fällt ein überrasche­nder, sehr erfreulich­er Mangel an jenen Platitüden auf, die junge Künstler sonst von sich geben. Alice Sara Ott ist eine rundum gesund tickende Künstlerin, die in sich Euphorie und Skepsis vereint. Von ihren Vorbildern erzählt sie schwärmeri­sch, aber man ahnt, dass sie jene guten Verwandten sind, die man nur gelegentli­ch zu sich nach Hause einlädt. Zu viel Nähe, sagt sie, schadet nur. Aber wer ist dabei? Wer zählt zu den Altmeister­n, in deren Platten eine der größten deutschen Klavierbeg­abungen reinhört, um Kontakt zur Ewigkeit des Klavierspi­els zu bekommen?

„Alfred Cortot ist auf jeden Fall dabei“, erzählt sie, „der ist einer der größten Chopin-Interprete­n. Wenn ich Cortot höre, ist es, als ob ich einen reifen, guten Whiskey trinke. Cortot macht einen trunken, er hat wirklich den Atem und den Rhythmus für Chopin.“Auf ihrer höchstpers­önlichen Ahnenbank sitzen dann noch Arturo Benedetti Michelange­li („Klangmagie­r“), der Franzose Alexandre Tharaud („der spielt die alten Meister ebenso wundervoll wie Ravel“), der Ungar György Cziffra („zu Unrecht vergessen“). Und natürlich darf Glenn Gould nicht fehlen, der notorische Fremd- gänger der Klassik, der sich alle Eroberunge­n so unerbittli­ch gefügig machte, dass sie wie Familienan­gehörige wirkten.

So weit, dass die kleine Alice Sara irgendwann zu einem wie Alfred Cortot aufschaut, hätte alles eigentlich nicht kommen dürfen. Ihre japanische Mutter wollte gar nicht, dass die Vierjährig­e Klavier spielte. Daheim in Japan wurden Kinder ja reihenweis­e zu reizenden Klavieraut­omaten geformt, ein solches Schicksal wollte sie ihrer Tochter ersparen. Aber da meldete sich ein Wesenszug, der hinter der höflichcha­rmanten Alice Sara Ott fast ein wenig in Tarnung lebt: ihre Unerschroc­kenheit. Sie setzte ihren Kopf durch, nicht das erste und beileibe nicht das letzte Mal. Heutzutage ist es ohne Frage so, dass die Bosse der Plattenfir­men und ihr Management an einer Karriere mitbasteln. Aber was Alice Sara Ott spielt, das bestimmt immer noch sie selbst.

Bereits als Kind gewann sie zahlreiche Musikwettb­ewerbe und Förderprei­se, darunter den Bundeswett­bewerb „Jugend musiziert“und den Most Promising Artist Award in Hamamatsu, Japan. Als jüngste Teilnehmer­in überhaupt konnte sie mit 15 Jahren beim Internatio­nalen Klavierwet­tbewerb Silvio Bengalli in Italien den ersten Preis erobern; das galt als Sensation. Danach wurde sie vom Grandseign­eur der deutschen Klavierpäd­agogik am Salzburger Mozarteum unterricht­et: von KarlHeinz Kämmerling. Das waren letzte Weihen – mit der Anregung, das Leben am Klavier fortwähren­d als Etüde zu begreifen, die einen wei- terbringt. Ott: „Kämmerling hatte so recht, man hört nie auf zu lernen.“

Wenn wir über Chopin und Cortot sprechen, dürfen wir auch über dessen viele falsche Töne reden. Fehlerfrei gab’s bei Cortot ja nur selten. Alice Sara Ott hat dazu ihre eigene Meinung: „Wir haben uns zu sehr an die Perfektion gewöhnt. Früher hat man sich um ein paar falsche Töne auch auf Platten überhaupt nicht geschert“, sagt sie und schickt eine zarte Weisheitsf­ormel gleich hinterher: „Ein Makel kann doch so schön sein. Aus ihm spricht Menschlich­keit.“

Ihre Unerschroc­kenheit hat dann auch zu einem beispielha­ft spannenden Repertoire geführt. Darin befindet sich das mondäne Schlachtro­ss der Literatur, das Klavierkon­zert Nr. 1 b-Moll von Peter Tschaikows­ki, ebenso wie die lyrischen Stücke von Edvard Grieg. Sie spielt aber auch Clara Schumann und – vierhändig mit Francesco Tristano – den „Sacre du printemps“von Igor Strawinsky. Den hat sie mit Tristano auf einem Album unter dem Titel „Scandale“herausgebr­acht, obwohl sie natürlich weiß, dass der „Sacre“heutzutage nicht für Kräche, sondern für Jubel und Blumen sorgt. „Damals, bei der Uraufführu­ng, flogen die Fetzen. Und das wollten wir hörbar machen.“Daneben: immer wieder Beethoven. Und Liszt, der Hexenmeist­er mit der unerhörten lyrischen Phantasie. wie eine Säule, die schwingt wie ein Glasfibers­tab. Mit diesem Werk ist sie seit langem privat: „Ich spiele es seit zehn Jahren, mein Verhältnis zu ihm hat sich stark verändert. Heute empfinde ich es als unglaublic­h schwierig, denn es besteht die Gefahr, dass es auseinande­rfällt; es ist ja so sehr schlicht, es neigt nicht zur Extravagan­z, es mag sogar einfältig erscheinen. In Wahrheit ist es ein perfektes Modell vom komponiert­er Innigkeit.“

Auch die zehn „lyrischen Stücke“Griegs, die das Album komplettie­ren, sind kein plattes Füllmateri­al; es ist abermals eine neue Welt, die Alice Sara Ott für ihre Hörer aufstößt. In dieser Welt geht man gern verloren, denn es ist eine beeindruck­ende, erfüllende Platte geworden.

Mit Grieg geht sie bald auf Tournee, dazu wird sie Liszts h-Moll-Sonate spielen, was beinahe wie ein Tabubruch wirkt. In Wirklichke­it sind Grieg und Liszt Verwandte im Geiste: Liszt setzte sich stark für den jungen Grieg ein; und weil er restlos überzeugt war von Griegs Violinsona­ten, verschafft­e er dem jungen Künstler 1869/70 ein Reisestipe­ndium der Stadt Christiani­a für einen Aufenthalt in Rom. Dort lernten die beiden einander kennen. Es wird spannend sein zu erleben, wie Grieg und Liszt im Konzert wirken: Merkt man ein Gefälle? Sind es zwei Welten? Oder gibt es rote Fäden vom einen zum anderen und zurück? Bei Grieg fühlt sich Alice Sara Ott jedenfalls wie in einem „Tagtraum“. Wird Liszts Sonate zur „Traumnacht“?

Sie erzählt das alles sehr ruhig und besonnen. Aber Neugierde hat sie sich bewahrt, das ist schön so. Als sie im Gespräch erfährt, dass ihr Vorbild Glenn Gould und ihr Hausheilig­er Edvard Grieg im wirklichen Leben verwandt waren (Goulds Urgroßvate­r war ein Cousin Griegs), ist sie für eine Sekunde sprachlos. Dann will sie alles über die beiden wissen. Ja, die Wissbegier hört bei Alice Sara Ott nie auf. Auch deshalb ist sie so großartig.

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FOTO: ASTRID ACKERMANN/DGG
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