Mit der Ente über die Alpen
Zwischen Abitur und Studium nutzten wir 1974 die Zeit für eine zweimonatige Reise an die Adria – unser Gefährt hatte 16 PS.
DÜSSELDORF Später würde man sich an diesen Sommer 1974 wegen zweier Ereignisse erinnern: Der erste deutsche SPD-Bundeskanzler, Willy Brandt, war im Mai wegen der Guillaume-Affäre zurückgetreten, Helmut Schmidt rückte nach. Und Deutschland wurde Weltmeister, in einem denkwürdigen Finale gegen Holland, in dem ein Spieler namens Uli Hoeneß mit der Nr. 14 auflief, Paul Breitner einen Elfer verwandelte und Gerd Müller das Siegtor zum 2:1 schoss. tinen, sondern in einer schier endlos langen Rampe steil nach oben. Man kommt unten durch eine Kurve – und sieht eine bis dahin nicht gekannte, in den Himmel ragende Steigung. Schrecksekunde – aber vom Vater, dem talentierten Schrauber, hatte ich gelernt, dass ein Auto im ersten Gang eine Menge schafft. Auch wenn es nur 16 PS hat.
Also ersten Gang rein, und im Schneckentempo, aber problemlos kroch die Ende mit heulendem, weil hochtourig laufendem Motor hoch. Oben war die Grenze bald erreicht. Erstaunt stellten wir fest, dass die Alpen auf jugoslawischer Seite genau so aussahen wie in Österreich. Aber weiter unten, in Städten wie Ljubljana, sahen wir die Spuren der sozialistischen Substanzvernichtung: Rost, verwitterter Beton, billig hochgezogene, verrottende Plattenbauten. An der Küste schließlich suchten wir uns einen Campingplatz – und dort blieben wir für mehr als sechs Wochen. Das Gefühl, weit weg zu sein von daheim, ohne irgendwelche Zwänge leben zu können, war großartig – auch ohne Radio und TV. Manchmal fand ich im Ort eine tagealte Bild-Zeitung und las sie begierig.
Wir kochten auf dem Spirituskocher, kauften morgens frisches Brot beim Bäcker, genossen Schafskäse in Salzlake und frisches Obst vom Markt. Wir fanden Wein aus der Region (sehr süß!) und standen konsterniert vor einer Moschee. Muslime, hier? Wie gesagt – keine Ahnung von den Volksgruppen dieses Landes.
Irgendwann klebte am Fenster der winzigen Bude des Campingplatzverwalters eine Karte, deren Schrift uns bekannt vorkam. Isabels Mutter, der sie nach der Ankunft geschrieben (auf Papier, nicht per WhatsApp!) hatte, fragte per Post, wie es uns denn so ginge. Vermutlich haben wir dann noch mal geschrieben. Anrufen ging nicht, es gab kein Telefon und keinen Grund – es war ja alles ok.
Wir lernten viele Menschen kennen: Einheimische, Polen (mit einem uralten Auto angereist), Bayern, eine Familie aus Aachen, Niederländer. Wir aßen gemeinsam, besuchten die Insel Krk (bis heute kann ich den Namen nicht aussprechen) und lebten in den Tag hinein. Einmal wurden wir beklaut, einmal flog bei Sturm fast das Zelt weg, ich kaufte unsagbar kitschige Reiseandenken. Warum auch nicht – wir hatten 600 Mark zur Verfügung, das Leben war spottbillig, wir hatten, was wir wollten: das Meer vor der Nase, die Sonne am Himmel, Brot, Wein und Käse.
Auf der Rückreise übernachteten wir irgendwo in Österreich in einer Pension und wunderten uns über das Gefühl, wieder in einem Bett zu liegen – und abends Wiener Schnitzel zu essen. Den Rest der Reisekasse (ja, den gab es) teilten wir daheim halb-halb. Ich kaufte mir von meinem Teil eine LP von Shirley Bassey. Weil: Ihre Version des Beatles-Songs „Something“war für mich die Hymne dieses Sommers. Vom Rest des Geldes tankte ich die Ente auf, war pleite und brauchte einen neuen Job.
Eine Woche später fand ich ihn als Lkw-Fahrer bei einer kleinen Papierfabrik und schrieb mich wenig später an der Uni in Köln ein.