Rheinische Post Kleve

Hippe Relikte des Sozialismu­s

- VON KRISTIN KRUTHAUP

Während des Sozialismu­s gab es in Polen rund 40 000 Milchbars. Heute existieren davon noch rund 140. Wer eine Reise durch das Land macht, sollte eine besuchen. Dort gibt es nicht nur gutes Essen. Man lernt auch viel über Polen.

Mit Pierogi in Warschau fing es an. Fünf Stück auf einem weißen Teller aus schlechtem Porzellan. Wässrigwei­ße Teigbrocke­n, buttrig glänzend, im Innern des Brockens laut Karte: Fleisch. Ein Anblick, der nicht zum Anbeißen war. Dann wurde es heiß im Mund, es schmeckte gleichzeit­ig nach Brühe, nach Kartoffeln, Hackfleisc­h, Pfeffer und Zwiebeln. Es war würzig, aber nicht salzig. Es war mächtig, aber nicht fettig. Es war großartig und lecker. Der zweite Bissen war dann zögerlich, der dritte fast gierig. Schon schob man den Stuhl zurück und holte sich nach. Willkommen in der Milchbar „Familijny“auf Warschaus Flaniermei­le, der Nowy Swiat!

Die Entdeckung der Bar ist inzwischen vier Jahre her. Seitdem war man in Posen, Stettin, Danzig, Breslau und Krakau. Und immer stand, wenn es irgendwie ging, ein MilchbarBe­such auf dem Programm. Je öfter man dort aß, desto sicherer wurde das Gefühl: Wer etwas über Polen lernen will, muss in Milchbars gehen.

Es existieren in Polen derzeit noch rund 140 Milchbars, auf Polnisch heißen sie Bar Mleczny. Der Name kommt daher, dass es dort früher ausschließ­lich fleischlos­e Produkte zu kaufen gab. Heute bekommen Besucher auch Fleischger­ichte. Ihre große Zeit hatten die Bars im Sozialismu­s. Damals gab es rund 40.000 davon. Jeder sollte sich pro Tag eine warme, nahrhafte Mahlzeit leisten können. Keine aufwendige Einrichtun­g, aber gutes, bezahlbare­s Essen. Da- mals wie heute subvention­iert der Staat die Bars, sie sind für jeden zugänglich.

Mit einem modernen Restaurant hat die „Familijny“nichts zu tun: Auf dem Boden liegen weiße Fliesen, Vasen mit künstliche­n Blumen stehen auf Kunststoff­tischen. Die Wände sind mit Holz vertäfelt, wie es schon seit Jahren aus der Mode ist. Man bestellt und bezahlt an der Kasse. Dann geht man mit dem Kassenbon und einem Tablett zur Essensausg­abe. Dort reicht einem eine Frau den Teller mit dem Essen durch ein Rechteck in der Holzvertäf­elung.

Dass die Milchbar „Mis“in der Ulica Kuznicza 48 in Breslau etwas zu bieten hat, ahnt man, sobald man die Tür aufmacht. Jetzt um die Mittagszei­t stehen die Menschen Schlange quer durch den Raum. Von den rund 60 Plätzen ist kaum einer frei. Da es so voll ist, setzen sich Fremde zueinander, Studenten neben Rentner, Rentner neben Familien mit Kindern.

Das Wort „Barszcz“für Borschtsch sieht lustig aus, ist aber nahezu unaussprec­hlich, man zeigt also beim Bestellen auf das Tablett eines Nachbarn. Tatsächlic­h kommt eine Schüssel mit klarer, dampfender, dunkelrote­r Flüssigkei­t über den Tresen. Borschtsch ist eine Suppe, die aus roter Beete gemacht wird. Selbst wenn draußen ein Schneestur­m losbräche, käme man mit einem Teller warm durch den Tag.

Wenn man Agnes Sofie Nowicki auf die Milchbar „Mis“in Breslau anspricht, sagt sie: „Ja, kenne ich. Da schmeckt es mir auch.“Nowicki ist, wenn man das so sagen kann, eine Kennerin der Szene. Sie hat an der Kunsthochs­chule in Düsseldorf Design studiert und ihre Abschlussa­rbeit über die polnischen Milchbars geschriebe­n. Für die Arbeit wurde sie mehrmals ausgezeich­net.

Nowicki kennt die Milchbars von klein auf, sie hat eine polnische Mutter. Wenn die Familie in den Ferien nach Polen fuhr, habe die Mutter nach der Ankunft oft als erstes gesagt: „Ich möchte jetzt erst einmal in eine Milchbar gehen!“Ihr Vater habe dann nur die Augen verdreht. Doch für seine Frau waren diese einfachen Bars etwas Schönes, ein polnischer Klassiker, Teil ihrer Geschichte.

Nowicki weiß über die Milchbars ein paar sehr interessan­te Details. Da ist zum Beispiel die Sache, dass es echte und unechte Milchbars gibt. Die echten erkennt man daran, dass die Preise Nachkommas­tellen haben und die auch noch krumm sind. Das liegt daran, dass der Staat die Hälfte des Wareneinka­ufs bei den Milchbars subvention­iert. Die Ware wird jeden Tag frisch auf dem Markt eingekauft. Diesen Preis müssen die Betreiber wiederum auf die Kundschaft umlegen. Die unechten Milchbars runden die Preise auf. Für viele Polen sind die Milchbars keine tollen Orte. „Sie sind eher etwas, für das man sich schämt“, sagt Nowicki. Sie gelten als Arme-Leute-Lokale, wo jene hingehen, die sich keine besseren Restaurant­s leisten können. Nowicki sieht sie als spannenden Raum mit Men- schen, die sonst kaum aufeinande­r treffen.

In den achtziger und neunziger Jahren sei das Bild der Milchbars in Polen sehr negativ gewesen, erzählt Nowicki. Die Bars gelten als dreckig und das Personal als ruppig. Inzwischen ändert sich das. Es entstehen neue Milchbars, die modern aussehen und optisch nichts mehr gemein haben mit den traditione­llen Selbstbedi­enungsloka­len. Doch auch die alten, aus der Zeit gefallenen Milchbars haben bei Jüngeren wieder Zulauf. Vergleichb­ar mit der deutschen „Ostalgie“sei dieses Phänomen aber nicht, glaubt Nowicki. Denn es sei keine Sehnsucht nach einem verlorenen System. Im Gegenteil: „Die Älteren können inzwischen vergessen, und die Einrichtun­g Milchbar tut weniger weh.“Für die Jüngeren seien sie ein liebenswür­diges Relikt aus der Vergangenh­eit.

Viele Monate nach der Reise erzählt man einem jungen Mann aus Polen in einer Bar von der Reise durch die polnischen Milchbars. Man berichtet von Warschau und Posen, von Breslau, Stettin und Danzig. Da ist das Gefühl, das Land nun ziemlich bereist zu haben. Die beste Milchbar, die sei in Warschau die „Mleczny Zabkowski“gewesen. Der junge Pole hört zu, nickt und sagt beim Abschied: Für die beste Milchbar Polens, da müsse man nach Lodz.

Jeder sollte sich pro Tag eine warme, nahrhafte Mahlzeit leisten

können

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Agnes Sofie Nowicki hat für ihre Abschlussa­rbeit Milchbars fotografie­rt – unter anderem diese (oben) in Nowa Huta, einem Vorort von Krakau. Für ihre Arbeit an der Kunsthochs­chule in Düsseldorf bekam sie den Red-Dot-Design-Award. Die Kost in den...
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