Der Osten, so anders
Die Wut, die sich auf den Marktplätzen zwischen Schwerin und AnnabergBuchholz über die Bundeskanzlerin ergießt, ist nicht die Wut Einzelner. Beispiel Torgau vor zwei Wochen: Die sächsische Kleinstadt an der Elbe – 20.000 Einwohner, ein verlassenes Renaissance-Schloss, hübsch sanierte Bürgerhäuser – empfing Angela Merkel mit dunklen Wolken. Noch bevor der Tross der Kanzlerin auf den Marktplatz bog, hatten die Reisebusse der AfD Stellung bezogen.
Schließlich musste Merkel im Regen gegen ein Konzert aus Hunderten von Pfeifen argumentieren. Mit der AfD pfiffen stiernackige Gestalten in Thor-Steinar-Joppen und eine Delegation der „Identitären Bewegung“, die aus Sachsen-Anhalt angereist war. Die übertönten leicht den fünfmal so großen Rest der versammelten Gemeinde, darunter brave Schüler, gut gelaunte Rentner und Flüchtlingsfrauen mit Kopftüchern, die unablässig Handyfotos schossen. So oder so ähnlich war es in den 19 ostdeutschen Städten, die Merkel im Wahlkampf bereist hat.
Die lautstarken Proteste stellte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gestern auch bei einer Rede im Schloss Bellevue in einen direkten Zusammenhang mit der Zukunft der Demokratie. Er zog einen Bogen vom Niederbrüllen politischer Gegner zu einem generellen Trend in vielen Ländern, Prinzipien der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie in Zweifel zu ziehen, lächerlich zu machen oder anzufechten. „Manche Gesellschaften erscheinen wie infiziert vom Fieber des Autoritären“, meinte das Staatsoberhaupt.
Die Wut deckt nicht die Fläche, aber sie ist da. In Pfiffen und Gebrüll äußert sich einerseits eine Anti-Haltung einiger weniger, die meist keiner Nachfrage standhält. Die trifft zudem auf ein Grundgefühl, das tief in der Bevölkerung festsitzt. 27 Jahre nach der Friedlichen Revolution sind die Ostdeutschen stolz auf das Erreichte. Auf der anderen Seite finden sich viele in ihrer Lebensleistung nicht gewürdigt. Da ist dieses Gefühl des Über-den-Tisch-gezogenworden-Seins in den ersten Aufbaujahren, das Spuren hinterlassen hat.
Wer heute im Osten um die 60 ist, hat Brüche hinter sich, die in westdeutschen Eigenheimsiedlungen so nicht vorstellbar sind. Dazu gehört für viele die Erfahrung, dass einem mit Anfang 30, mit zwei Kindern und einem Haus, plötzlich die Fabrik vor der Nase dicht gemacht wird, bei der man sein Arbeitsleben hat verbringen wollen. Seitdem mussten Ostdeutsche mobiler und flexibler sein. Sie machten Umschulungen, versuchten sich als Selbständige, verkauften Versicherungen – die wenigsten mit Erfolg. Sie pendelten eben in die Wirtschaftszentren von Bayern, Baden-Württemberg oder der Schweiz – oder sie zogen ganz hin.
Viele der dramatischen Werksschließungen in der alten Heimat kamen auch deshalb, weil sich der Westen Konkurrenz ersparen wollten. Was übrig blieb, wurde zur verlängerten Werkbank. Die neuen Länder haben heute zwar Produktionsstätten, aber auch nach 27 Jahren keine Konzernzentralen. Die sind oft in den Westländern, wo die Unternehmen Steuern zahlen und mit Forschung und Politik verzahnt sind.
Das hat Folgen: Selbst in den Wirtschaftszentren rund um Leipzig, Erfurt, Jena, Dresden ist das Steueraufkommen niedriger als in den armen Ecken von Nordrhein-Westfalen. Sachsen, eines der schlagenden Herzen des Wirtschaftswunders vor 150 Jahren, war nach der Wende glücklich, dass große Player wie Porsche und BMW ins Land kamen – und bezuschusste Ansiedlungen gern mit öffentlichem Geld. Doch es zeigen sich Tücken, wenn es nicht gut läuft. Als VW in der Diesel-Krise ins Schlingern kam, war schnell klar, dass es
„MancheGesellschaften erscheinen wie infiziert vom Fieber des
Autoritären“
Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident