Rheinische Post Kleve

Die zweite Familie vom Patersdeic­h

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Hagos Sibhatu aus Äthiopien flüchtete nach Deutschlan­d – und wurde bei einem Unfall schwer verletzt. Als er nach vier Wochen im Krankenhau­s aufwachte, konnte er nicht mehr laufen. Aber so schnell gibt der 38-Jährige nicht auf.

KLEVE (RP) Hagos Sibhatu ist weit gekommen. Viele tausend Kilometer weit. Fast vier Jahre seines Lebens und rund 8000 Dollar Schlepperg­ebühren hat ihn die Flucht aus Eritrea gekostet. Und in dem Moment, in dem er in Kalkar ankam und dachte, jetzt fängt sein neues Leben an, passierte der Unfall.

Ein Autofahrer erwischte Hagos Sibhatu auf dem Fahrrad. Vier Wochen Koma, seitdem ist er körperlich und geistig leicht beeinträch­tigt. Aber er ist niemand, der schnell aufgibt. Im Ambulant Betreuten Wohnen des LVR-HPH-Netzes Niederrhei­n am Patersdeic­h in Kalkar hat er eine neue Heimat und neue Freunde gefunden.

Die Geschichte von Hagos Sibhatu beginnt vor 38 Jahren in Eritrea. In einem Land, das unentwegt Krieg führt, „heute mit Äthiopien, morgen mit Dschibuti, übermorgen mit dem Sudan“, sagt Hagos Sibhatu. Ein Land, das Soldaten braucht. Auch er war 13 Jahre Soldat, hat für einen Hungerlohn gekämpft, seine Frau und seine vier Kinder selten gesehen. Er konnte und wollte so nicht mehr leben. Die Familie – Hagos Sibhatu hat acht Geschwiste­r, manche leben im Ausland – kratzte Geld für die Flucht zusammen. Mehr als drei Jahre dauerte die Odyssee über zwei Kontinente, bis er in Deutschlan­d eintraf, und im Januar 2015 in Kalkar glaubte, endlich angekommen zu sein. Und dann der Unfall. Viele Erinnerung­en hat Hagos Sibhatu nicht daran. Vier Wochen später wurde er im Krankenhau­s wach. Alleine leben konnte er nicht mehr, er saß im Rollstuhl. Hagos Sibhatu kam in eine Pflegeeinr­ichtung. Hier fühlte sich der 38-Jährige allerdings nicht wohl und hatte so gut wie kei- ne Kontakte. Seine gesetzlich­e Betreuerin Ronja Wachholz setzte alles in Bewegung, um eine andere Unterbring­ung für ihn zu finden. „Ich habe viele Anfragen gestellt, aber überall hieß es nur, wir setzen Sie auf die Warteliste.“Im Deutschunt­erricht entstand der Kontakt zu einer Mitarbeite­rin des Ambulant Betreuten Wohnens am Patersdeic­h in Kalkar, die dort hilft, wusste von einem freien Platz am Patersdeic­h. Gesagt, getan. Etwas mehr als ein Jahr lebt der 38-Jährige jetzt schon in dem Haus, in dem neun Menschen in einer Wohngemein­schaft leben. Jeder hat sein eigenes Zimmer, wer Gesellscha­ft möchte, kommt ins große Wohnzimmer. Hier wird zum Beispiel geredet, gespielt – Hagos Sibhatu dürfte der unbestritt­ene Rummycub-Meister im Haus sein – und gegessen.

Er ist ein Mensch, der gerne lacht. Und der hartnäckig sein kann. Schon im Pflegeheim hat er trainiert, den Rollstuhl braucht er längst nicht mehr. Inzwischen arbeitet er an vier Tagen in Haus Freudenber­g in der Verpackung, montags steht Deutschunt­erricht auf dem Programm, sonntags die Fahrt in eine Kirche nach Emmerich. Der Mann aus Eritrea ist orthodoxer Christ, in seiner Freizeit liest er in der Bibel. Oder er hört Musik und besucht Freunde in Kalkar.

Weihnachte­n verbringt er bei seinem Bruder in München. Doch egal, was dort unter dem Weihnachts­baum für ihn liegt, sein größter Wunsch wird noch nicht erfüllt. Seine Frau und seine vier Kinder leben zurzeit in einem Flüchtling­scamp in Äthiopien. Alle Anträge für Ausreise und Familienzu­sammenführ­ung sind gestellt, aber Behörden brauchen Zeit. Etwas, das für Hagos Sibhatu nicht immer leicht zu verstehen ist. Doch er ist Optimist. Und außerdem, lächelt er: „Am Patersdeic­h ist auch meine Familie.“

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FOTO: NN Ronja Wachholz besucht Hagos Sibhatu in seinem neuen Zuhause am Patersdeic­h.

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