Aus Sorge um Polen
Der Familienvater Piotr Szczesny verbrannte sich, um vor einer Diktatur zu warnen. Die Tat spiegelt die Tragödie einer Generation.
NIEPOLOMICE Einen Augenblick, bevor Piotr Szczesny am Nachmittag des 19. Oktober 2017 ein Feuerzeug an seine mit Lösungsmittel getränkte Kleidung hielt, muss es still gewesen auf dem Platz vor dem Warschauer Kulturpalast. Szczesny spielt eine Aufnahme seines Lieblingslieds „Kocham Wolnosc“(Ich liebe die Freiheit) ab. „Ich kann so wenig machen/ Ich liebe und verstehe die Freiheit/Ich kann sie nicht aufgeben“, hallt es über den Platz. Erst als der antikommunistische Protestsong verstummt, greift der 54-Jährige zu dem Behälter neben sich, übergießt sich mit der Flüssigkeit. Ein Feuerzeug klickt. Die Fußgänger haben es in der herbstlichen Dämmerung nicht wahrgenommen, sagen sie später. Sie hätten nur das Lied gehört und dann den Schrei.
Piotr Szczesnys Kinder Sophia und Krzysztof sind sich sicher, dass nichts, was an jenem Oktobertag geschah, Zufall war. Sein Vater habe „Ich liebe die Freiheit“in den 80ern als Chemiestudent gehört. Damals kämpfte er im Untergrund gegen die Kommunisten. Später in der Demokratie arbeitete er für Initiativen, die sich für lokale Mitbestimmung einsetzten. „Der Song war so etwas wie sein Lebensmotto“, meint der 25-jährige Softwareingenieur. Die Szczesnys fanden nach dem Tod ihres Vaters in dessen Haus in der Kleinstadt Niepolomice bei Krakau ein politisches Manifest mit 19 Forderungen. Jede einzelne beginnt mit dem Satz: „Ich protestiere...“Szczesny prangert darin die Aufhebung der Gewaltenteilung an, die Knebelung der Medien, die Hetze gegen Minderheiten – er beschwört in seinem Manifest ein Land, das sich in zwei Jahren verfinstert hat.
Es waren ausländische Reporter, die nach Krakau gereist sind, um die Familie Szczesny ausfindig zu machen. Sie verglichen den Mann aus Niepolomice mit Jan Palach. Wie der Prager Student, der sich aus Protest gegen die sowjetische Invasion der Tschechoslowakei 1968 verbrannte, sei Szczesny nun das Symbol des Protestes gegen den neuen Autoritarismus in Mitteleuropa. Nachdem ihr Name bekannt wurde, erhielt die Familie Szczesny Kondolenzbriefe aus dem ganzen Land. Im Internet dagegen wütet der Hass. Szczesny, der an Depressionen litt, sei irre gewesen, heißt es dort. Und die Regierung beschuldigte die Opposition, sie treibe labile Menschen durch das Schüren einer Hysterie vor der drohenden Diktatur in den Tod.
„Mein Vater hat in diesem Jahr keine Kürbissamen ausgesät“, sagt Sophia Szczesny. Der studierte Chemiker habe nie gern etwas angefangen, was er nicht beenden konnte, erzählt die Künstlerin. „Und er wusste, dass er die Kürbisse in die-
Wojciech Karpieszuk sem Jahr nicht ernten kann“, sagt sie. Die Kinder sind sich einig, dass ihr Vater vor einem Jahr den Entschluss zur Selbstverbrennung gefasst hat. Können sie ihm nach so kurzer Zeit die Tat verzeihen? Sophia und Krzysztof Szczesny schauen sich an, als müssten sie mit Blicken eine Antwort abstimmen. Die Tochter spricht schließlich: „Es war auf jeden Fall kein Suizid. Mein Va- ter hatte verschreibungspflichtige Medikamente zu Hause. Warum sollte er in eine andere Stadt fahren, um so schmerzhaft zu sterben? Weil er ein Zeichen setzen wollte.“
Wojciech Karpieszuk kann sich gut an seine Interviews erinnern, die er nach der Tat mit den Kindern von Piotr Szczesny geführt hat. Der Journalist der Gazeta Wyborcza macht sich Sorgen um die SzczesnyKinder. Polen sei immer auf der Suche nach Märtyrern, sagt er. Szczesny nennt sich in seinem Manifest „grauer Mann“. Das heißt in Polen so viel wie Otto Normalverbraucher. Der einfache Mann, der ein sentimentales polnisches Lied liebte, böte sich jenem Teil der Gesellschaft als Held an, der gegen die nationalkonservative Regierungspartei PiS eingestellt sei, sagt Karpieszuk. Jeden Tag kämen Menschen zusammen, die Blumen niederlegen an der Stelle, an der Szczesny sich angezündet hat. „Wir lieben Menschen, die sich aufopfern oder für eine Sache sterben“, sagt er.
Szczesny sei dabei der Held einer bestimmten Generation, sagt er. Es seien diejenigen, die sich in der Zeit der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc und des Kriegsrechts von 1981 den Panzern des Generals Jaruselski entgegenstellten und „Nieder mit der Diktatur!“schrien. Sie hätten das Gefühl, der Kommu- nismus kehre mit der PiS nun ausgerechnet im Gewand des Antikommunismus nach Polen zurück. Szczesnys Tat spiegele die Tragödie dieser einst rebellischen und stolzen Generation wieder. Er sehe ältere, müde Menschen, die immer einsamer auf armselig besuchten Demonstrationen ihren Zorn auf die Regierung artikulieren. „Sie schauen dann den Jungen zu, die gleichgültig an ihnen vorbei in die Shoppingmalls ziehen und sie höchstens mitleidig anschauen“, sagt der Journalist. Gerade die Jüngeren, die die Schrecken des Kommunismus nie gekannt haben, wenden sich gelangweilt bis belustigt vom Spektakel der alten Widerständler aus den 80ern ab. „Sie können reisen, das Internet wird noch nicht zensiert, und vor allem haben sie mehr Geld denn je dank der Sozialreformen. Das sind die Freiheiten, die junge Polen interessieren. Alles, was man kaufen kann.“, sagt Karpieszuk.
Polen, die in den 80er Jahren gegen Jaruselski auf die Straße gingen, hätten viel riskiert, damit die Jungen heute so frei leben könnten. „Jetzt werden sie alt, ihr Lebenswerk liegt vor ihnen in Trümmern und wenn die Jugend die Hoffnung ist, dann sieht es düster aus“, sagt der Reporter. Er verweist auf die jüngsten Umfragen. Die PiS kratze zum ersten Mal an der 50-Prozent-Marke, und das ein Jahr vor den Parlamentswahlen. Besonderen Zuspruch erfährt sie bei den jüngsten Wählern.
Ewa Blaszczyk zieht sich ihre Fellmütze tief ins Gesicht, als sie vor der Gedenkstelle für Piotr Szczesny vor dem Warschauer Kulturpalast innehält. Vor ihr flackert ein Meer von Kerzen in der Dämmerung. Bis zu 20 Menschen kämen jeden Tag seit dem 19. Oktober, um welken Blumenschmuck zu entfernen und Kerzen wieder anzuzünden, die der Wind ausgeblasen hat, sagt sie. Einige versammelten sich spontan, andere verabredeten sich wie sie selbst über oppositionelle Chatgruppen. „In einer Stadt von zwei Millionen finde ich 20 Leute nicht viel“, sagt Blaszczyk. Sie könne nicht erkennen, dass Szczesnys Tat die Liberalen gestärkt habe. „Er wollte uns aufrütteln und das ist ihm nicht gelungen“, sagt sie. Immer weniger Menschen kämen zu den Demonstrationen gegen die Justizreform, sagt sie. Sie hätten Angst, ihre Meinung zu äußern, zögen sich zurück, meint sie.
Ewa Blaszcyks Eltern saßen in den 80er Jahren als Solidarnosc-Aktivisten im Gefängnis, erzählt sie. Die PiS wolle den Geist der Solidarnosc vernichten. „Sie nennen uns Verräter, weil wir 1989 am Runden Tisch mit den Kommunisten über eine friedliche Machtübergabe verhandelt haben.“Blaszczyk hält sich jetzt an ihrem Cape fest, als sei der kalte Wind in den Straßen Warschaus von der PiS angefacht worden. Auch 2018 müsse jemand wie sie in Polen mit Gefängnis rechnen. Gegen sie seien zahlreiche Verfahren anhängig wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht. Bald falle ein Urteil. „Dabei lehne ich jede Gewalt gegen die Polizei ab.“„Wir sind so machtlos und stehen so viel Achselzucken gegenüber“, sagt sie und blickt auf die flackernden Kerzen. Wer sich so klein fühle, reagiere mit Wut. „Die kann sich gegen einen selbst richten, die Regierung, diese ganze gleichgültige Gesellschaft.“Blaszcyk sagt, sie trauere um Piotr Szczesny, wie um eine Person, die ihr nahegestanden habe. „Er hatte ein gutes Herz“, sagt sie. Ein Herz, das brannte aus Sorge um Polen. Doch nun ist es erloschen.
„Wir lieben Menschen, die sich aufopfern oder für eine Sache sterben“
Journalist bei der Gazeta Wyborcza