Das Haus der 20.000 Bücher
Hätte er es getan, wären sie bestimmt in der kleinen Schallplattensammlung meiner Großeltern aufgetaucht. Schließlich war Jiddisch die Sprache, die Chimen wählte, wenn er Kummer hatte; in der mameloshen, der Muttersprache, las er Gedichte über Liebe und Verlust. Wahrscheinlich träumte er auch in ihr.
Dafür enthielt die Sammlung Aufnahmen der Lieder von Itzik Manger, einem legendären jiddischen Dichter, Dramatiker und selbst ernannten „Volksbarden“des 20. Jahrhunderts, der Zbarzher verehrt hatte. Chimen freundete sich kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs mit ihm an, und für kurze Zeit gaben sie gemeinsam die linksgerichtete jiddische Kulturzeitschrift Eyrop ¸ heraus. Während des Krieges stand Manger im Mittelpunkt einer Gruppe jüdischer Essayisten, Dichter und Dramatiker, mit denen Chimen in einem kleinen Café unweit der British Library Tee trank und Gespräche führte.
Dort begegneten sie dem Journalisten und Kunstkritiker Leo Koenig; vermutlich lernte Chimen in dem Café auch einen weiteren engen Freund aus jener Phase seines Lebens kennen: den jiddischen Romanautor, Stückeschreiber und Büchersammler Scholem Asch.
Dort könnte er zudem Freundschaft mit dem deutsch-jiddischen Dichter A. N. Stencl geschlossen haben, einem Exzentriker, der die Zeitschrift Loshn un leben (Sprache und Leben) veröffentlichte und sich in einem Sarg aus Hitler-Deutschland nach England hinausgeschmuggelt haben soll. Stencl führte einen literarischen Salon in Whitechapel, in dem sich die „Freunde des Jiddi- schen“trafen und der seinen Tod (im Jahre 1983) noch fast drei Jahrzehnte überdauerte. Doch unbestrittener Fixstern dieser Gruppe war Manger. Er verbrachte elf Jahre in London, zuerst als unglücklicher Flüchtling während des Krieges (auf verschlungenen Wegen war er in den ersten Monaten der Kampfhandlungen von Polen nach Frankreich, dann weiter nach Nordafrika, Gibraltar, Portugal und schließlich nach London gelangt) und nach dem Krieg als unglücklicher Staatenloser. 1951 übersiedelte er nach Israel, wo er 1969 starb.
Chimen bewunderte Manger und sprach nur zu gern Jiddisch mit ihm, aber er ärgerte sich über dessen Unfähigkeit, seine Zunge im Zaum zu halten. Manger war ein bekanntermaßen schwieriger Mensch, ein atemberaubend guter Dichter, der im Rausch (und er war nur allzu häufig betrunken) die entsetzlichsten Dinge über ihm nahestehende Menschen äußern konnte.
Jahrzehnte später erzählte Chimen der mit ihm befreundeten Jiddistin Efrat Gal-Ed (die an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf lehrte), dass Manger es sich mit ihm verdorben habe, als Chimen nach dem Krieg auf einer Versammlung in London aufgetreten sei, um zweier Bundistenführer zu gedenken, die von der sowjetischen Geheimpolizei umgebracht worden waren. Manger habe Anstoß an Chimens Worten genommen und ihm vorgeworfen, die beiden Männer erneut „ermordet“zu haben.
Es ist durchaus möglich, dass Chimen, damals auf dem Gipfel seiner Stalin-Verehrung, etwas Anstößiges sagte – in jenen Jahren zerstritt er sich auch so heftig mit Leo Koenig, dass er diesem in einem Anflug irrationalen, absurden Grolls ein Origi- nalwerk von Chagall zurückgab, das Koenig ihm geschenkt hatte –, aber es ist genauso wahrscheinlich, dass Manger seiner Zunge freien Lauf gegen einen einstigen Freund ließ.
Trotz der Versuche meiner Großmutter, die Wogen zu glätten, konnte Chimen dem Dichter nicht verzeihen. Die beiden Männer wechselten nie wieder ein Wort miteinander. Aber Chimen war weiterhin begeistert von Mangers Gedichten und Liedern. An jedem Seder, nach der feierlichen Lesung der Haggada und nachdem die Gäste Mimis Festmahl verzehrt hatten, schmetterte mein Großvater Mangers skurriles Liebesgedicht „Rabbeinu Tam“, einschließlich des unsinnigen Refrains „Haydl, didl, dam“. Er sang den jiddischen Text rasch und halbwegs melodisch, machte eine Pause vor dem Refrain und wartete darauf, dass wir alle einfielen. Genau das taten wir jedes Mal.
Mit den Jahren prägten wir uns mehr oder weniger gut die jiddischen Wörter rein über ihren Klang ein und beteiligten uns auch an den Strophen. So brachte es Chimen im London des ausgehenden 20. Jahrhunderts zuwege, dass dreißig Gäste an der Tafel Mangers Lied sangen, in einer Sprache, die sie nicht verstanden, über Ereignisse, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten.
Bevor ich dem Lied für dieses Buch nachspürte, dämmerte es mir nicht einmal, dass wir alle über eine liebeskranke Königin der Türkei sangen, die Rabbi Tam ihre sehnsuchtsvollen Briefe schickte – ein goldener Pfau trug sie über den Ozean. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, dass Rabbi Tams Frau, wenn sie die Briefe abfing, ihn stets mit einem Nudelholz durchbläute, oder dass Tam vor diesen Verwick- lungen Zuflucht im Stall suchte, wo er mit einer Ziege plauderte. Nach all den Jahren kann ich mich noch gut an Mangers Rhythmen und den Klang erinnern. Fast spüre ich noch die Schwingungen des volltönenden, melodramatischen Basses, mit dem sich Chimens und Mimis Bekannter Manny Tuckman (dessen Frau Ghisha Leo Koenigs Tochter war) langsam bis zum abschließenden „Haydl, didl, dam“steigerte, wobei das letzte Wort in einem allmählichen Glissando von Dur zu Moll nachhallte. Viele von Mimis und Chimens anderen musikalischen Vorlieben waren jedoch nur vor dem Hintergrund ihrer politischen Haltung verständlich. Neben Aufnahmen von Sinfonien, die Otto Klemperer dirigiert hatte, und von Opern, die der bedeutende russische Bassist Fjodor Schaljapin (Chimens Mutter war in seiner Kindheit mit ihm in ein Konzert des Künstlers gegangen) gesungen hatte, besaßen sie Schallplatten des amerikanischen Sängers Paul Robeson. Dessen sonore Stimme war zweifellos herrlich, aber der Grund dafür, dass die Familie Abramsky ihm lauschte und nicht etwa Frank Sinatra, verdankte sich eher der Tatsache, dass er ein Sympathisant der Kommunistischen Partei war, als seiner Fähigkeit, ein perfektes tiefes C zu singen. Ebenso sprach für ihn, dass er Julius und Ethel Rosenberg verteidigte, die am 19. Juni 1953 wegen der Weitergabe von Atomgeheimnissen an die Sowjetunion hingerichtet wurden, und vor ihren Anhängern auftrat.