Die Volksdroge
DÜSSELDORF Verzicht benötigt eine feste Form. Die sechswöchige Fastenzeit war deshalb für mich eine gute Gelegenheit, einmal völlig ohne Alkohol auszukommen. Und anders als es die katholische Kirche vorschreibt, wollte ich auch an den Sonntagen auf jegliche alkoholischen Getränke verzichten. So waren es am Ende 46 Tage inmitten eines normalen Arbeitsalltags, an denen ich weder Bier, Wein noch Spirituosen konsumierte. Nicht einmal gefüllte Pralinen oder Weinsauce kamen infrage.
Der Verzicht fiel mir leichter, als ich befürchtet hatte. Doch ich machte eine andere Entdeckung: Der Alkohol ist der ungekrönte König unseres gesellschaftlichen Lebens. Ob Familienfest, Verabschiedung eines verdienten Kollegen, gemütliches Essen unter Freunden, Ausgehen oder hochoffizielle Abendveranstaltung – nichts geht ohne Bier, Wein, Sekt und gelegentlich auch Schnaps. Schlimmer: Wer bei solchen Gelegenheiten nichts trinkt (schon dieser Ausdruck ist verräterisch), muss sich verteidigen („Ich muss noch Auto fahren“oder „Ich bin schwanger“) oder auch umständlich nach anderen Getränken fragen, wenn es nicht gerade Wasser sein soll. „Man muss sich erklären, wenn man keinen Alkohol trinkt“– so sieht es auch der Soziologe Raphael Gaßmann, Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS).
Man könnte noch weiter gehen. Insbesondere Wein, aber auch Bier und Schnaps, prägen unsere Kultur – die der germanischen und slawischen Welt allemal, aber auch Franzosen, Italiener, Spanier, Portugiesen und Griechen verbinden gerne ihre Hauptmahlzeit mit Rot- oder Weißwein. Mit Weizenbrot, Olivenöl und Wein kann man treffend mediterrane Kultur umschreiben. In den Gegenden weiter nördlich kommt Bier, im Osten und Norden Europas in starkem Maß auch Hochprozentiges hinzu. Alkohol, so sahen es die beiden Ethnologinnen Gisela Völger und Karin von Welck schon 1981 bei ihrer aufsehenerregenden Ausstellung „Rausch und Realität“in Köln, ist ein fast unverzichtbarer Bestandteil der abendländischen Kultur. Gehirngifte wie Alkohol besitzen einen Symbolwert. Deshalb braucht Alkoholgenuss auch einen Rahmen, der Zugehörigkeit definiert.
Wenn etwa Kollegen sich verschwiegen in einem Raum treffen, um einen edlen Tropfen zu trinken, ist man automatisch Spielverderber, wenn man sich – aus welchen ehrenwerten Gründen auch immer – nicht beteiligt. Aber auch der Abend mit Freunden oder das Essen in einem guten Restaurant hat einen anderen Charakter, wenn man statt Wein Wasser trinkt. Um wenigstens geschmacklich mitzuhalten, muss dann bisweilen ein Placebo herhalten, etwa ein alkoholfreies Bier. Meine Feststellung dabei war, dass es einige Sorten gibt, die sich hervorragend als Durstlöscher eignen. Es muss also nicht immer „Stoff“sein.
Doch was wären die großen deutschen Volksfeste wie die Wiesn oder der Karneval ohne Alkohol? Eine abstinente Kirmes oder ein Galaabend ohne Wein und Sekt – undenkbar. Bei großen gesellschaftlichen Ereignissen regiert König Alkohol genauso wie auf dem intimen Familienfest, egal ob Hochzeit, Taufe, Kommunion, Konfirmation, runder Geburtstag. Selbst nach Bestattungen gibt es oft reichlich Alkohol. Wenn Wissenschaftler sich zu Kongressen treffen, Gewerkschaften oder Parteien ihre Versammlungen abhalten, politische Koalitionen oder neue Konzerne geschmiedet werden, überall rundet Alkohol das Großereignis ab.
„Alkohol entspannt und enthemmt. Das wird von vielen als angenehm empfunden. Bis zu einem gewissen Grad macht das eine Gruppe lockerer. Es kann aber auch schnell ins Gegenteil umschlagen“, weiß der Suchtexperte Gaßmann. Die negativen Folgen des Al-
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Der Alkohol ist der ungekrönte
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