Kracht als Junge missbraucht
Der Autor erzählt in Frankfurt von seinen traumatischen Internats-Erlebnissen.
FRANKFURT/M. Christian Kracht war der, der auf Messepartys in mächtig alkoholisiertem Zustand für Tumulte sorgte und vom Sicherheitspersonal flugs hinausbegleitet wurde. Er war der, der sich mit anderen damaligen Popliteraten im Hotel Adlon der „Tristesse Royale“hingab, der zu Interviews mit dreistündiger Verspätung kam, um zu sagen, dass er keine Interviews geben wird. Und der sich auf seinen Lesungen meist mit Parka und Burberry-Schal verhüllte. Wie auch jetzt in Frankfurt, zum Auftakt seiner Poetikvorlesung, die aber keine gewesen ist, sondern ein Geständnis. Dass er nämlich als Zwölfjähriger im kanadischen Internat der Lakefield College School missbraucht worden war – von einem Pastor namens Keith Gleed. Und wie er weinend seinen Eltern davon am Telefon berichtete und diese ihm nicht glauben wollten, da er immer schon eine „ausladende Fantasie“gehabt habe. „Trübe Erinnerungstümpel“hätten ihn fortan umgeben.
Bis ihn im vergangenen Jahr die Nachricht erreichte, dass zu Ehren des inzwischen verstorbenen Schulpastors ein Taufbecken eingeweiht werden solle und sich daraufhin 30 damalige Mitschüler zu Wort meldeten: Der Pastor habe sie miss- braucht, vergewaltigt, zum Mundsex gezwungen oder vor ihnen masturbiert, so Kracht. Nachdem sich Kracht das „Szenario“der eigenen Misshandlung fast vier Jahrzehnte eingebildet zu haben glaubte, kamen die Bilder der Erinnerung wieder an die Oberfläche: Wie er sich in dem ansehnlichen Holzhaus des Pastors nackt ausziehen musste, wie er sich „über die Lehne des Sofas drapieren“musste und „mit dem Gürtel auf Rücken und Hinterteil“geschlagen wurde. Auf Anweisung von Pastor Keith Gleed sollte er schluchzend so verharren. „Ich hör- te ihn leise stöhnen, und ich muss heute annehmen, dass er sich hinter mir stehend selbst befriedigt hatte.“
Man ahnt, wie viel Überwindung es den 52-jährigen Kracht gekostet haben muss, dies jetzt vor einem großen Publikum zu erzählen. Aber auch: Wie wichtig es für sein Leben und Schreiben ist, diese Überwindung dann auf sich zu nehmen.
Kracht hat lange darüber nachgedacht, was den Pastor angetrieben hat, Schutzbefohlene zu missbrauchen. Es sei wohl „die Freude an der Ausübung purer, unverfälschter Macht“gewesen, die „Obsession mit Ausformung der menschlichen Erniedrigung“, und dann ein gewisser Ästhetizismus“. All das hat Kracht literarisch begleitet, nämlich in den „Eigenschaften und Empfindungen, die viele meiner Figuren teilen mögen“. Nach seinen Worten sind so „der Akt des Schreibens selbst, die Gewalt, die Erniedrigung, die Grausamkeit, der körperliche Ekel und die fetischisierte, oft verlagerte männliche Sexualität Topoi meiner Arbeit geworden“; in Büchern wie „Faserland“und „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“, in „1979“und „Imperium“.
Man wird das Werk wieder lesen und seinen Autor neu bedenken müssen. Morgen wird die Poetikvorlesung in Frankfurt fortgesetzt.