Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Hinter der rundlichen Figur des Oberrevidenten Ebenseder, der vom raschen Ersteigen der Treppen ein wenig außer Atem war, trat Herr Vittorin senior ins Zimmer, und der Ausdruck seines Gesichtes ließ keinen Zweifel darüber zu, dass er mit sich zufrieden war. Er salutierte mit seinem Spazierstock wie mit einem Säbel und rief „Servitore“– denn seit seiner Triestiner Dienstzeit liebte er es, sich gewisser italienischer Wendungen zu bedienen: er pflegte sich mit einem „Eccu mi pronto“zu melden, wenn er gerufen wurde, zum Aufbruch mahnte er mit „Avanti“oder „Andemo“und ein kurzes energisches „Basta cosi“bedeutete, dass von einer ihm unbequemen Sache nicht länger mehr gesprochen werden sollte.
Kaum eingetreten erfüllte er auch schon das Zimmer mit geräuschvollem Leben. In militärisch-strammer Haltung auf- und niederschreitend, verlangte er von Vally seinen Hausrock und für den Herrn Oberrevidenten den Polsterstuhl aus dem Schlafzimmer, von Lola einen extraheißen, starken Tee –„womöglich mit Rum, wenn einer da ist, es kann auch ein Slivovitz sein“– von Georg Auskunft darüber, wo sich sein Bruder Oskar herumtreibe – „Der Mistbub, muß wahrscheinlich wieder mit seinen Freunden auf dem Korso promenieren, solltest dich doch ein bisschen um ihn kümmern“– und von allen ohne Ausnahme ein fröhliches Gesicht.
„Sie bleiben doch zum Nachtmahl bei uns?“wandte er sich an den Herrn Ebenseder. „Aber ich bitte Sie, Herr Oberrevident, keine Umstände, selbstverständlich, was halt gerade da ist, ein Paar Würstel und ein Glas Bier. Vally, halt’ dich g’rad. Wo steckt denn die Lola? Lola!“rief er in die Küche hinaus.„Laß den Tee. Steht nicht mehr dafür, wir werden ohnehin bald nachtmahlen. Also Kinder, dass ihr’s wisst, heute war der gewisse Tag.“
Der Wirkung seiner Worte völlig sicher, zündete er sich gelassen seine Pfeife an, indes Herr Ebenseder, unruhig auf seinem Stuhl hinund herrückend, durch Augenzwinkern und allerlei andere Zeichen die Aufmerksamkeit der Schwestern auf sich zu lenken suchte.
„Eine Kommission, so quasi als Schiedsgericht gedacht“, fuhr Herr Vittorin senior fort. „Drei Herren, ein Hofrat aus dem Ministerium als Vorsitzender. Endlich, dass ich auch einmal zu Wort gekommen bin. Der Hofrat, übrigens ein charmanter Herr, Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle: ,Aber bitte, nur ungeniert zu sprechen, Herr Kollege, dazu sind wir ja da, dass wir Sie anhören.’ – Na, ich hab’s den Herren gesagt, könnt euch denken, vorbereitet war ich ja. Ich hab’ mir kein Blatt vor den Mund genommen.“
Er wendete sich, Bestätigung und Zustimmung suchend, Herrn Ebenseder zu, der plötzlich ganz steif dasaß und eifrig mit dem Kopf nickte. „Bitte, meine Herren, Fehler, Irrtümer, gut, zugegeben, können vorkommen, ich will nichts beschönigen, ich mach’ mich nicht besser, als ich bin. Aber, meine Herren, nicht vergessen: die Hauptsache – reine Hände! Wie steht es damit? – Na, ich hab’ den Herren die Augen geöffnet über die Zustände in unserem Departement, rücksichtslos. – Da wäre zumindest einmal –“
Er stand, tief Atem schöpfend, auf und gönnte sich den Genuss, seine Anklagerede zu wiederholen, sie einem Publikum ins Gesicht zu schleudern, das seinen Worten mit Bewunderung folgte.
„Da wäre zunächst einmal der Herr Rechnungsdirektor. Bitte sehr, gewiss, mein Vorgesetzter, allen Respekt, seine Privatverhältnisse gehen mich nichts an. Aber, meine Herren, jeden Tag, den Gott geschaffen hat, mit dem Gummiradler nach Hause, das ist doch auffallend, wer kann sich das heutzutage von seiner Gage leisten? Privatvermögen gleich Null, im Gegenteil, eher Schulden, aber für die Frau Gemahlin teure Seidenstrümpfe und Toiletten, und weiß Gott, was noch alles – woher, wenn ich fragen darf? Weiter: seit Kriegsbeginn nicht auf Urlaub gewesen. Warum? Ein pflichtbewusster Beamter, sollt’ man glauben, ganz besonders gewissenhaft. O nein! Er wird schon wissen, der Herr Rechnungsdirektor, warum er keinen anderen in seine Agenden hineinschauen läßt – mehr will ich nicht sagen, die Herren müssen sich schon selbst ihren Vers darauf machen! – Das hat Eindruck gemacht. Der Herr Hofrat hat mir recht gegeben, war ganz auf meiner Seite, ich hab’s ihm angesehen – natürlich, so direkt äußern durft’ er sich nicht, er als Vorsitzender, da heißt es: Objektivität. Aber der Ton, in dem er dann gesagt hat: ,Bitte den Herrn Rechnungsdirektor zur Einvernahme.’ – Wie der an mir vorbei zur Tür hineingegangen ist, na, ich hätt’ um alles in der Welt nicht an seiner Stelle sein wollen, käsweiß war er im Gesicht.“
„Nun, und das Ergebnis?“fragte Georg. „Wie ist die Sache für den Herrn Rechnungsdirektor ausgegangen?“Herr Ebenseder, der sein Lüsterkäppchen aufgesetzt hatte, hob die Schultern und kniff die Augen zusammen, um anzudeuten, dass er hinsichtlich des Ergebnisses seine eigene Meinung habe.
„Entschieden ist leider bis dato noch gar nichts“, sagte Herr Vittorin. „Der Herr Hofrat hat gesagt, die heutige Sitzung habe nur informative Bedeutung. Ich stell’ mir vor, dass die Herren am Montag – Hat’s nicht geläutet? Wer kann das sein um die Zeit, Oskar hat doch den Schlüssel. Vielleicht ist’s wer aus dem Amt, bleib’, Vally, ich seh’ selber nach.“
Er ging hinaus. Die beiden Mädchen blickten in angstvoller Erwartung Herrn Ebenseder ins Gesicht. Der saß in seinem Stuhl zurückgelehnt, sah zur Decke des Zimmers hinauf und schüttelte den Kopf.
„Er weiß nichts, er hat keine Ahnung“, sagte er.„Das ganze war eine Formalität, die reinste Farce. Im Vorhinein war es entschieden, dass er in Pension geschickt wird.“
EineWeile war Stille. Vally sah Lola an, die totenblass geworden war. Herr Ebenseder strich sich nachdenklich das Kinn und fuhr fort:
„Er tut uns allen sehr leid, speziell mir, was hab’ ich ihm zugeredet, alles umsonst. Vierzig Prozent der bisherigen Bezüge, mehr wird im günstigsten Fall nicht für ihn herausschauen. Ja, leicht wird’s nicht sein. Das Fräulein Vally wird sich vielleicht herbeilassen müssen, auch einen Beruf zu ergreifen, Kontoristin, Stenotypistin, auch was beitragen zum Haushalt, nicht so wie bisher in den Tag hineinleben –“
Georg Vittorin hob den Kopf.