Die dunklen Geheimnisse der Familie
Maxim Biller erfindet den Roman seiner zwischen Ost und West gefangenen Familie. „Sechs Koffer“heißt er und ist ein mit Geschichten vollgestopftes, poetisches Buch.
Wir müssen uns wohl Maxim Biller als ebenso verletzenden wie auch verletzlichen Menschen vorstellen: Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: Als Kolumnist und als Kritiker gibt der 1960 in Prag geborene Autor gern den arg ungehobelten Rüpel und geht lustvoll an die Schmerzgrenze fieser Beleidigungen und übler Nachrede.
Als Erzähler dagegen schafft er es immer wieder, uns mit nachdenklichen Skizzen, zärtlichen Tönen und poetischen Porträts zu überraschen. Vor allem dann, wenn er sich dem unverarbeiteten Trauma seiner eigenen Familiengeschichte widmet und sich dann in einem Geflecht aus Fakten und Fiktionen in die dunklen Geheimnisse seiner weit verzweigten jüdischen Herkunft vorwagt.
Sein neuer Roman, „Sechs Koffer“, ist ein überaus geglückter Fall verzweifelter literarischer Wühlarbeit und humorvoller Rekonstruktion dessen, worüber man in der Familie Biller lieber schweigt: Denn bis heute ist ungeklärt, wer eigentlich im Jahr 1960 den Großvater in der Sowjetunion als Devisenschmuggler denunziert hat.
Und wer dafür verantwortlich ist, dass der „Tate“hingerichtet wurde. Lange Zeit war Onkel Dima als Verräter ausgemacht, hatte er doch fünf Jahre in der Tschechoslowakei im Knast gesessen und – um seine eigene Haut zu retten – bestimmt einige (kleinkriminelle) Familiengeheimnisse preisgegeben.
Doch seit der Schriftsteller als Fünfzehnjähriger den nach Zürich geflohenen Onkel besucht und bei ihm einige Geheimdienstunterlagen gefunden hat, weiß er, dass Dima als Verräter der eigenen Familie nicht tauglich ist.
Mit feinem Gespür für hinterhältige Pointen und überraschende Wendungen erzählt Maxim Biller in seinem neuen Roman aus verschiedenen Perspektiven, wie sich die politischen Abgründe des 20. Jahrhunderts auf die jüdische Familie auswirken. Wie die Billers von Moskau nach Prag und von dort aus nach Hamburg fliehen. Und wie der inzwischen in Berlin lebende Autor die lockeren Fäden sämtlicher Gerüchte und Geheimnisse mit Fakten und Fiktionen mischt und zu einem halbwegs stimmigen Puzzle fügt.
Wir lernen nun Billers Vater kennen, der aus dem Russischen übersetzt und nicht mehr mit seinen Brüdern sprechen mag; Tante Natalia Gelernter, die einst als Regisseurin eine große Hoffnung des tschechischen Kinos war und dann am Antisemitismus der Kulturbonzen scheiterte.
Ihr Film „Hanka Zweigová“über eine Jüdin, die den Holocaust überlebt hat und danach nur noch Spaß haben und mit Männern schlafen will, die an Krieg und Katastrophe keinen Gedanken verschwenden, gilt als eine ebenso gelungene wie gewagte künstlerische und politische Provokation.
Zum Finale der literarischen Öffnung von sechs mit Geschichten
vollgestopften Koffern erzählt Maxim Biller von seiner Schwester Jelena. Auch sie hat gerade einen autobiografisch grundierten Roman über die Familien-Geheimnisse geschrieben und veröffentlicht. Jetzt lebt sie in London und kommt auf Einladung des NDR nach Hamburg, um über ihr Buch zu sprechen. Während sie mit dem Taxi vom Flughafen zum Sender fährt, erinnert sie sich an all die verschwiegenen familiären Abgründe, die ihr Leben belasten, sie überlegt, ob sie die Tür zur dunklen Kammer aus Verdrängung und Verrat vor dem Mikrofon wirklich öffnen soll.
Hatte ihr Bruder nicht einmal in einer Fernseh-Talk-Show auf die Frage, warum er so viel und so unnachgiebig über seine Familie schreibt, gesagt: „Weil ich keine Geheimnisse mag“?
Der Roman erzählt, wie sich die politischen Abgründe des 20. Jahrhunderts auf die jüdische Familie auswirken