Offene Grenzen – eine Utopie
Am Abend des 4. September 2015 beschlossen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Werner Faymann, die zahlreichen Menschen an den Grenzen, die aus Ungarn kommend nach Österreich und Deutschland wollten, ziehen zu lassen. Aus humanitären Gründen. Die Bilder von damals kennen wir alle. An den Bahnhöfen in München und Wien versammelten sich Tausende Einheimische, um die Neuankommenden willkommen zu heißen.
Was Merkel und Faymann eigentlich genau verfügten, darüber entbrannte in den darauffolgenden Monaten und Jahren eine heftige Diskussion. „Merkel macht die Grenzen auf“war zu lesen. Dabei waren diese gar nicht geschlossen. Schließlich greift in weiten Teilen Europas seit 1995 das Schengen-Abkommen, stationäre Grenzkontrollen sind seitdem abgeschafft.
Das Erstaunliche an jenem
Tag war eher, dass Merkel und Faymann die Grenzen (zunächst) nicht schlossen – so wie es einige andere europäische Länder zuvor taten und damit erst dafür sorgten, dass Tausende Menschen wortwörtlich im Matsch stecken blieben. Erst am 13. September sah sich auch Deutschland dazu genötigt, wieder Grenzkontrollen einzuführen. Aus der Willkommenspolitik wurde eine Abschottungspolitik.
Aber was wäre eigentlich, wenn die Willkommenspolitik von einst weiter Bestand hätte? Nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern. Wenn Migration nicht gestoppt, sondern bewusst zugelassen würde. Was wäre also, wenn es globale Freizügigkeit ohne Grenzen gäbe? Derartige Szenarios sind natürlich reine Spekulation. Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, was passieren wird. Doch sich mit dem Thema zu beschäftigen kann dabei helfen, vergleichbare Situationen zu meistern, sollten sie tatsächlich einmal vorkommen.
Ein paar Fakten vorweg: Lediglich 3,4 Prozent der Weltbevölkerung sind Migranten – also Menschen, die nun in einem Land leben, in dem sie nicht geboren wurden. Der Wert hat sich in den vergangenen 100 Jahren nahezu nicht verändert. In absoluten Zahlen sind das rund 281 Millionen von derzeit 7,6 Milliarden Menschen. „Bei vollständig geöffneten Grenzen glaube ich nicht, dass dieser Anteil bei mehr als sechs Prozent liegen würde“, sagt Franck Düvell, Migrationsforscher an der Universität Oxford sowie am neu gegründeten Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin. Düvell verweist darauf, dass man sich zunächst einmal die Frage stellen müsse, wer denn überhaupt wohin wandern würde, fehlten jedwede Grenzen.
„Der überwiegende Teil der Menschen in den Armenoder Krisengebieten ist finanziell oder auch emotional überhaupt nicht in der Lage auszuwandern beziehungsweise zu fliehen“, sagt Düvell. „Die emotionalen Kosten von Migration, etwa die Trennung von Teilen der Familie und die Einsamkeit, sind sehr hoch und schrecken die meisten Menschen ab. Wer will schon gerne sein Zuhause und seine Liebsten zurücklassen?“Migration beschränke sich daher vor allem auf eine bestimmte Region oder ein Land. „Dass alle nach Europa wollen, ist also ein Mythos.“Von den zwölf Millionen syrischen Flüchtlingen befinden sich nur knapp 5,6 Millionen im Ausland – ein Großteil davon in den Nachbarländern Syriens. Sechs Millionen flohen innerhalb des Bürgerkriegslandes. Ähnliche Migrationsströme kann man in Südamerika beobachten.
Das Meinungsforschungsinstitut Gallup befragt regelmäßig Menschen in aller Welt, ob und wohin sie auswandern würden, wenn sie könnten. Im vergangenen Jahr ergab die Auswertung der Umfragen in etwa 160 Staaten, dass 710 Millionen Menschen sich grundsätzlich vorstellen könnten, irgendwann das Land zu wechseln. Vor zehn Jahren war dieser Wert um drei Prozent höher. 66