Pfaffs Hof
Aber das große Rolltor, das alles zur Straße hin abgeschlossen hatte, war nicht mehr da, deshalb war Onkel Maaßen wohl auch erst mal stehen geblieben.
Jetzt gab es hier eine Baustelle mit einem großen Haus quer zur Straße, das noch nicht fertig war.
Liesel bekam nun endlich auch ein Eigenheim. Ich hatte gehört, wie Vater sich darüber lustig machte. „Der kleine Soldat hat schon zwei Häuser hochgezogen, und die große Frau Zwanziger hockt immer noch auf anderthalb Zimmern. Und das mit dem ganzen Geld!“
„Fast noch im Rohbau“, stellte Onkel Maaßen fest, als er den Wagen jetzt doch auf den Hof lenkte.
„Richtfest war aber schon“, erklärte Mutter. „Jetzt ist der Innenausbau dran. Deshalb hat Liesel ja gerade so viel um die Ohren.“
Es sollte ein Sechsfamilienhaus werden, Liesel hatte die Baupläne mitgebracht, als sie wegen Dirks Geburt bei uns gewesen war. Ein Eingang in der Mitte mit dem Treppenhaus nach oben und dann an beiden Seiten je drei Wohnungen übereinander. Tante Liesel und Onkel Karl-Dieter wollten die beiden Wohnungen im ersten Stock beziehen.
„Wir haben uns bewusst gegen das Erdgeschoss entschieden“, hatte Liesel erläutert. „Zu viel Pöbel auf der Straße. Und natürlich haben wir den Grundriss komplett geändert.“
In der rechten Wohnung lagen das Gästezimmer mit einem kleinen Bad, das Esszimmer, die große Küche und der Wirtschaftsraum; in der linken Wohn- und Schlafzimmer, Karl-Dieters Arbeitszimmer und das Komfortbad.
Mutter hatte die Stirn gerunzelt. „Dann müsst ihr doch immer durchs Treppenhaus, wenn ihr von der Küche ins Wohnzimmer wollt.“
Aber Liesel hatte nur gelacht. „Das wiegen die Steuervorteile alles auf, glaub mir.“
Als Liesel wieder weg war, hatte auch Vater den Kopf geschüttelt und sich an die Stirn getippt. „Möchtest du so wohnen? Alle Mieter latschen dir quasi immer durch deine Wohnung. Warum setzen die nicht einfach einen Bungalow in ihren Park?“
Das stimmte. Hinter dem Fabrikgelände hatten sie noch eine riesengroße Wiese mit vielen Obstbäumen und einem Bach.
„So wirklich dicke scheinen die es ja doch nicht zu haben . . .“
Mutter hatte ein spitzes Gesicht gekriegt. „Es soll Menschen auf der Welt geben, die nicht ihr ganzes Geld in Steinklötze stecken und dafür darben bis zum Gehtnichtmehr.“
Im Betrieb wurde noch gearbeitet, man konnte die Maschinen hören.
Tante Liesel kam aus ihrem Büro gelaufen. „Wir sind ein bisschen im Verzug mit einem Auftrag fürs Fernsehen“, rief sie uns zu. „Deshalb müssen wir Extraschichten einlegen. Aber ich bin hier jetzt entbehrlich. Thomas!“Sie winkte ihrem Mitarbeiter, der am Schreibtisch saß.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass auch Männer Sekretärin sein konnten.
Herr Thomas war jung, hatte krause Haare wie ein Neger und einen Mund wie eine Frau.
„Sie schließen dann ab, Thomas. Und sagen Sie meinem Schwiegervater, er ist herzlich zum Kaffee eingeladen, wenn er Zeit findet.“
Opa Zwanziger hatte ich kurz kennengelernt, als ich damals mit Mutter hier gewesen war. Er hatte einen Arbeitskittel getragen und Staub in den Haaren gehabt. Mit schon über siebzig arbeitete er immer noch im Betrieb, den er eigenhändig aus dem Nichts aufgebaut hatte. Ich hatte ihn nicht verstehen können, weil er Kölnisch sprach.
Er war geschieden, was mir bei einem so alten Mann komisch vorkam.
Auch Liesel nannte ihn „Opa“. „Opa und ich schmeißen den Laden ganz allein!“
Onkel Karl-Dieter hatte mit dem Krieg nichts zu tun. Er war noch ein kleiner Junge gewesen, als der ausgebrochen war, und viel jünger als Liesel. „Aber er legt mir jeden Tag die Welt zu Füßen, weil er weiß, was er an mir hat.“
„Karl-Dieter ist in der Eifel wegen eines Großauftrags. Wir sind also unter uns“, haspelte Liesel, während wir zu ihrer Wohnungstür gingen. Dann fiel es ihr ein, und sie legte die Hände auf meine Schultern. „Alles Gute zum Geburtstag!“
Sie schickte Onkel Maaßen zum Auto, die Kleidersäcke holen.
„In der Zwischenzeit setze ich schon mal den Kaffee auf. Ich habe Sturmsäcke gebacken.“
Barbara kicherte. Liesel sagte nie Windbeutel, ich kannte das schon.
Der Couchtisch in der Wohnung hatte an der Seite eine Kurbel, mit der man die Tischplatte hochdrehen konnte, wenn man daran essen wollte.
Liesel legte uns Windbeutel vor, die mit Sahne und Sauerkirschen gefüllt waren.
„Einen kleinen Asbach dazu, Wim?“
„Da sag ich nicht nein.“
Dann bekamen Barbara und ich mein Geburtstagsgeschenk.
Liesel hatte Onkel Maaßen für uns beide Kleider nähen lassen, Frauenkleider aus grobem rosa Leinen, leicht tailliert mit einer durchgehenden Knopfleiste vorn.
„Ich will heute mal so richtig mit euch angeben.“
Jede von uns bekam noch eine raschelnde Tüte in die Hand, dann scheuchte sie uns ins Badezimmer. „Husch, husch, macht euch mal so richtig schick!“
Im Bad war es kalt, und es stank nach Abfluss und nach etwas, das zugleich süß, bitter und scharf war und das ich irgendwoher kannte.
Wir standen belämmert da, dann machten wir die Tüten auf. Rosa Unterhosen, rosa Hemdchen und Perlonstrumpfhosen!
Wir guckten uns an.
Schließlich zuckte Barbara die Achseln und fing an, sich auszuziehen.
Dabei drehte sie sich von mir weg, aber ich konnte trotzdem sehen, dass sie schon ganz dicke Brustwarzen hatte und Haare zwischen den Beinen.
Ich hatte nicht einmal Flaum. In der linken Kniekehle hatte sie ein Muttermal, genau wie ich.
Die Unterwäsche war aus einem knistrigen Stoff, der sich auf der Haut komisch anfühlte, und als ich mich in die Nylonstrümpfe gezwängt hatte, fühlte es sich an, als kriegten meine Beine keine Luft. „Das ist wie Karneval“, sagte ich. Ich hatte mich in diesem Jahr zum ersten Mal verkleiden dürfen, weil in meiner neuen Schule Karneval gefeiert wurde. Mutter war zuerst gar nicht erfreut gewesen. „Die müssen sich doch nicht jeden gottlosen Blödsinn von den Katholiken abgucken!“
(Fortsetzung folgt)