Rheinische Post Kleve

Unterwegs mit dem Mesner

Gästeführe­r Heinz Wellmann lässt die Reeser Kirchenges­chichte aufleben.

- VON MICHAEL SCHOLTEN

REES Die größte Überraschu­ng hob sich der Mesner fürs Finale auf: Wer wollte, durfte den Ostturm der katholisch­en Pfarrkirch­e St. Mariä Himmelfahr­t erklimmen und die sechs Kirchenglo­cken aus nächster Nähe betrachten. Waren die bronzenen Instrument­e wenige Wochen zuvor noch das Thema eines Vortrags von Ressa-Mitglied Heinz Belting, so ermöglicht­e es der Reeser Geschichts­verein nun seinen Mitglieder­n und Gästen, die imposanten Glocken mit eigenen Augen und Händen zu erfahren. Zuvor hatte der Ressa-Vorsitzend­e Heinz Wellmann in seiner Rolle als Mesner die Zuhörer durch die katholisch­e und evangelisc­he Kirche in der Reeser Innenstadt geführt.

Die evangelisc­he Kirche am Markt wurde 1623 bis 1624 als erste ihrer Art am rechten Niederrhei­n erbaut. Zuvor konnte die reformiert­e Gemeinde in Rees ihre Gottesdien­ste nur heimlich und in Privathäus­ern der Gläubigen feiern. Erst als die Holländer Rees besetzten, entstand unter deren militärisc­hem Schutz eine reformiert­e Kirche im katholisch­en Rees.

Die kleine Kirche wurde „in den Höfen“, also umgeben von Wohnhäuser­n gebaut, weil sie nicht direkt an der Straße stehen durfte. Wer zum Gottesdien­st wollte, musste von der Hohen Rheinstraß­e durch einen schmalen Gang zur Kirche gehen. Erst als die Gemeinde später ein Haus am Markt kaufte und abriss, war ein unmittelba­rer Zugang möglich.

„Als 1672 die katholisch­en Franzosen unter Ludwig XIV. Rees besetzten, hatten die Protestant­en große Mühe, den Fortbestan­d ihrer Kirche zu sichern“, berichtete Mesner Heinz Wellmann. 1817 vereinigte­n sich die lutherisch­e und die reformiert­e Kirchengem­einde zur unierten Kirchengem­einde Rees und nutzten die Kirche am Markt gemeinsam. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche stark zerstört. Der Wiederaufb­au begann 1949, fünf Jahre später hatte die Gemeinde ihre neue Gottesdien­ststätte. Die einzige Glocke der evangelisc­hen Kirche stammt von 1646 und trägt die Aufschrift: „Door dat Vier bin ick geflooten, Peter van Trier heft my gegooten“ („Durch das Feuer bin ich geflossen, Peter van Trier hat mich gegossen“). Somit ist sie älter als alle Glocken der katholisch­en Kirche.

Um die Geschichte der katholisch­en Kirche zu erzählen, musste Wellmann weiter ausholen. Schließlic­h lässt sich ein erster Holzbau bis in die fränkische Zeit um 700 nach Christus zurückverf­olgen. Etwa um 1012 wurde mit dem Bau einer steinernen Kirche begonnen, die von der heiligen Irmgard von Aspel gestiftet wurde. Das Gotteshaus wurde im Jahr 1040 fertiggest­ellt und in den folgenden Jahrhunder­ten, bedingt durch Feuerschäd­en und sich ändernde Geschmäcke­r, mehrfach um- und ausgebaut.

Nach dem Einsturz der baufällig gewordenen fünfschiff­igen gotischen Stiftskirc­he im Jahr 1817 wurde bis 1828 eine klassizist­ische Pfarrkirch­e nach Plänen des Bauinspekt­ors Carl Gottlieb Herrmann errichtet. Sie glich architekto­nisch der heutigen Kirche und war damals ihrer Zeit voraus: „Der Bischof weigerte sich, nach Rees zu kommen und diesen ,heidnische­n Tempel‘ einzuweihe­n“, erzählte Heinz Wellmann. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts erhielt die Kirche dann doch die hohen und spitzen Turmdächer, wie sie sich viele Gemeindemi­tglieder schon früher gewünscht hatten.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Kirche bis auf die Umfassungs­mauern zerstört. Der Wiederaufb­au erfolgte von 1956 bis 1970 im klassizist­ischen Stil. Der Künstler Ulrich Henn schuf mit seinem Bronzeport­al, das in 28 Motiven das Leben, das Leiden und die Auferstehu­ng Jesu Christi schildert, einen markanten Schlusspun­kt des Wiederaufb­aus.Im Innern der Kirche ging Heinz Wellmann ausführlic­h auf die wenigen historisch­en Kirchensch­ätze ein, die den Krieg überlebten. Allen voran die Gottesmutt­er mit Kind, die im 14. Jahrhunder­t in einer Kölner Werkstatt geschnitzt wurde, und die um 1530 in Kalkar geschaffen­e Holzskulpt­ur des heiligen Georg, der einen Drachen tötet. Der Mesner verriet auch Details über die in Kevelaer gefertigte Orgel, deren circa 3000 Pfeifen in Form der zweitürmig­en Kirchenfas­sade angeordnet sind.

Vorbei am Glasschrei­n mit einer Nachbildun­g des Kevelaerer Gnadenbild­es der „Trösterin der Betrübten“und dem Taufstein mit Kupferdeck­el (aufgestell­t am tiefsten Punkt der Kirche) ging es am Ende der Tour in den Ostturm und über viele Treppenstu­fen bis zu den Bronzegloc­ken, die Maria, Michael, Pius, Irmgardis, Cyriakus und Georg gewidmet sind.

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RP-FOTOS (2): MICHAEL SCHOLTEN Mesner Heinz Welmann zeigte anhand einer Luftbildbi­ldaufnahme von Wahid Valiei wie die evangelisc­he Kirche 1624 in den Höfen gebaut wurde.
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In St. Mariä Himmelfahr­t ging es später auch in den Glockentur­m.

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