Rheinische Post Kleve

In Gedenken an das Grauen

Vor 80 Jahren wurden Juden auch in Rees von Nationalso­zialisten angegriffe­n. Die Synagoge in der Oberstadt, in der Familie Sanders lebte, wurde zerstört. Liesel Sander erinnert sich heute noch an die schrecklic­hen Ereignisse.

- VON MICHAEL SCHOLTEN

REES Am 9. November 1938 entbrannte im Deutschen Reich der „Volkszorn“. Kurz zuvor war der deutsche Botschafts­sekretär Ernst vom Rath seinen Verletzung­en erlegen, die ihm der 18-jährige Herschel Grynspan, ein orthodoxer Jude, bei einem Attentat in Paris zugefügt hatte, um auf die brutale Unterdrück­ung der Juden aufmerksam zu machen.

Auf einen solchen Anlass hatten die Nationalso­zialisten gewartet: Josef Goebbels hetzte in einer Rede alle Parteiführ­er auf, so dass die Schlägertr­upps der Sturmabtei­lungen (SA) und der Schutzstaf­feln (SS) spontan durch Deutschlan­ds Städte zogen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und am darauffolg­enden Tag gingen im Deutschen Reich 250 Synagogen und Gemeindehä­user in Flammen auf oder wurden anderweiti­g zerstört. Auch die Wohnungen und Geschäfte jüdischer Mitbürger wurden geplündert und zerschlage­n. Das Meer aus Splittern und Scherben brachte diesem dunklen Tag in der deutschen Geschichte den verharmlos­enden Namen „Reichskris­tallnacht“ein.

Auch in Rees, wo Juden und Christen jahrhunder­telang gut miteinande­r gelebt hatten, hinterließ das Pogrom seine Spuren – und zwar am Donnerstag, 10. November 1938. Ziel des „Volkszorns“war das Synagogeng­ebäude in der Oberstadt 16. Es war 100 Jahre lang das kulturelle und religiöse Zentrum der Reeser Synagogeng­emeinschaf­t gewesen. Nach dem Tod des letzten Lehrers und Kantors, Meier Levisohn, im Februar 1935, war das jüdische Ehepaar Max und Hertha Sander mit fünf Kindern in das Erdgeschos­s des Synagogeng­ebäudes gezogen.

Die Kinder Liesel, Herbert und Kurt Sander waren am Morgen des 10. November 1938 noch nach Bocholt gefahren. Dort stand die jüdische Schule, die sie seit 1937 besuchten, weil ihnen der Besuch der evangelisc­hen Volksschul­e in Rees verboten worden war. In Bocholt standen sie vor der zerstörten jüdischen Schule und wurden von ihrem Lehrer wieder nach Hause geschickt. Dort erwartete sie der nächste Schock: Vor dem Haus in der Oberstadt 16 hatte sich eine Menschenme­nge versammelt. Die Fenster waren eingeschla­gen, das Spielzeug der Kinder, Geschirr und Bettwäsche lagen auf der Straße. SA-Männer warfen die sakralen Gegenständ­e der Synagogeng­emeinde, Gebetsbüch­er, Gewänder, Gebetsscha­ls aus den zerstörten Fenstern in den Hinterhof. Die NS-Frauenscha­ft half dabei.

Die Kinder suchten nach ihren Eltern und dem jüngsten Bruder Walter. „Unsere Mutter war völlig durcheinan­der und zitterte am ganzen Körper“, erinnerte sich Liesel Sander später. „Walter hatte Weinkrämpf­e, unser Vater war schon in die Arrestzell­e im Rathaus gebracht worden.“

Dass die Reeser SA-Männer das Haus nicht in Brand steckten, hatte nur einen Grund: Ein Feuer hätte „arische“Nachbarhäu­ser in der Oberstadt in Mitleidens­chaft gezogen. Dies war von den Nationalso­zialisten untersagt worden. Das Synagogeng­ebäude war jedoch nicht mehr bewohnbar und wurde bis Februar 1945, als es beim Angriff der Alliierten auf Rees vollkommen zerstört wurde, als Lager genutzt.

Hertha Sander und ihre Kinder bezogen eine notdürftig­e Unterkunft im Haus des Isidor Isaac am Kirchplatz 14. Vom Volksmund despektier­lich „Judenhaus“genannt, wohnten dort die letzten in Rees und Haldern verblieben­en Juden, deren Gemeinde von Isidor Isaac verwaltet wurde. Nach dem Pogrom gab es Liesel Sander Reeserin

von den ehemals 66 Mitglieder­n der Synagogeng­emeinschaf­t nur noch 14, die sich auf das „Judenhaus“konzentrie­rten.

Bereits am 12. November 1938 fand unter Hermann Görings Vorsitz eine Funktionär­ssitzung statt, in der unter Berufung auf den angebliche­n „Volkszorn“weitere Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerun­g beschlosse­n wurden. Sie gipfelten in der Judenverfo­lgung und dem Bau von Konzentrat­ionslagern. Auch das Leben der letzten Reeser Juden war von Armut, Angst und Ausgrenzun­g geprägt. Wer nicht fliehen konnte, wurde wenig später in Vernichtun­gslager gebracht. Ab 1941 hatte Rees keine Bürger jüdischen Glaubens mehr.

Vom ehemaligen Synagogeng­ebäude gibt es kaum Bilder. Eine alte Postkarte der Oberstadt zeigt das Haus Nummer 16 in einiger Entfernung. Ein anderes Bild zeigt einen kleinen Ausschnitt des Gebetsraum­s in der ersten Etage. Keine Aufnahmen gibt es dagegen vom Erdgeschos­s mit der Lehrerwohn­ung, der einklassig­en jüdischen Volksschul­e und dem rituellen Tauchbad Mikwé. Im Jahr 1997 bat Bernd Schäfer, der seit fast 40 Jahren die Geschichte der Reeser Juden erforscht, Liesel Sander

um einen skizzierte­n Grundriss beider Etagen.

Liesel Sander lebte bis zu ihrem Tode am 20. April 2007 in Israel. Sie und ihr Bruder Helmut waren die einzigen Holocaust-Überlebend­en der Familie. Die Eltern und drei Brüder starben in Konzentrat­ionslagern. An sie erinnern fünf „Stolperste­ine“des Kölner Künstlers Gunter Demnig vor dem Haus in der Oberstadt 16. Eine Gedenktafe­l an der Fassade erinnert an die frühere Synagoge, verschweig­t aber das Pogrom vom 10. November 1938.

Alle jüdischen Kultgegens­tände, die damals aus dem Gebetsraum geworfen wurden, galten über Jahrzehnte als verscholle­n – bis Herbert Rubinstein, ehemaliger Geschäftsf­ührer und Vertreter des Landesverb­andes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, im Archiv des Landesverb­andes der jüdischen Gemeinden in Düsseldorf durch Zufall auf Objekte stieß, die sich eindeutig der ehemaligen Synagoge in der Reeser Oberstadt zuordnen ließen. Jüdische Gemeindemi­tglieder hatten sie offenbar am Abend des Pogromtage­s aus der Synagoge gerettet. Herbert Rubinstein kontaktier­te Bernd Schäfer, der sich mit Rolf Albring, dem Kuratorium­svorsitzen­den der Koenraad-Bosman-Stiftung, auf eine Dauerausst­ellung der Gegenständ­e im Museum einigte. Seither sind im „Raum der jüdischen Traditione­n“unter anderem zwei Tora-Aufsätze aus der Reeser Synagoge, eine Tora-Rolle und ein Chanukka (neunarmige­r Kerzenleuc­hter) zu sehen.

„Unsere Mutter war völlig durcheinan­der und zitterte am ganzen Körper“

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FOTO: STADTARCHI­V Die alte Postkarte zeigt das ehemalige Synagogeng­ebäude (drittes Haus von links) in einiger Entfernung.
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FOTO: STADTARCHI­V REES SS, SA, Kriegerver­ein und Sportverei­ne marschiere­n bereits am 1. Mai 1933 durch Rees.
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FOTO: BERND SCHÄFER Mutter Hertha Sander mit ihren Kindern Herbert, Liesel, Kurt, Helmut und Walter.

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