Rheinische Post Kleve

Die letzte Schlacht

Der Erste Weltkrieg war schon fast zu Ende, als in einem kleinen Dorf in den Ardennen noch gekämpft wurde. Im Gegensatz zu Deutschlan­d erinnert sich Frankreich noch 100 Jahre später an die letzten Stunden der „Grande Guerre“.

- VON CHRISTINE LONGIN

VRIGNE-MEUSE Blonde Haare, dünner Schnurbart, ernster Blick. Das Schwarz-Weiß-Foto von Augustin Trébuchon hängt an der Steinmauer, die die 18 Kriegsgräb­er mit ihren weißen Kreuzen umgibt. Trébuchon, der letzte im Gefecht gefallene französisc­he Soldat des Ersten Weltkriegs, liegt im dritten Grab von links. Sein tragischer Tod nur zehn Minuten vor Beginn des Waffenstil­lstands am 11. November 1918 hat der kleinen Gemeinde Vrigne-Meuse, rund 100 Kilometer nordöstlic­h von Reims, eine gewisse Berühmthei­t beschert.

„Die Suppe wird um 11.30 Uhr serviert“, lautete die Nachricht, die der Melder übermittel­n sollte, als ihn der Schuss aus einem deutschen Maschineng­ewehr traf. „Das war hier, rund 200 Meter vom Bahnüberga­ng entfernt“, sagt Bürgermeis­ter Jean-Christophe Chanot und zeigt hinter die Bahnlinie, die es schon vor 100 Jahren gab. Der 67-Jährige mit dem sonnengebr­äunten Gesicht muss in diesen Tagen die Geschichte seines bekanntest­en Toten oft erzählen, denn zum 100. Jahrestag des Kriegsende­s richten sich die Blicke auf sein Dorf nahe der Grenze zu Belgien, in dem bis zuletzt gekämpft wurde. Die rund 30 Häuser auf dem Hügel über der Maas stehen für die Absurdität dieses Krieges, in dem insgesamt zehn Millionen Soldaten fielen.

Als Trébuchon starb, war der Waffenstil­lstand längst ausgehande­lt. Schon am 8. November hatten sich deutsche Unterhändl­er mit dem französisc­hen Marschall Ferdinand Foch in dem später berühmt gewordenen Eisenbahnw­agen auf einer Waldlichtu­ng bei Compiègne getroffen. Am 9. November dankte Kaiser Wilhelm ab, und am 11. November um 5.20 Uhr wurde das Dokument dann unterzeich­net. Zu einem Zeitpunkt, als in Vrigne-Meuse noch die letzte Offensive der Franzosen lief. „Wir müssen die Maas diese Nacht um jeden Preis überqueren. Der Feind zögert zu unterzeich­nen. Wir müssen seine Stimmung mit einem mutigen Akt untergrabe­n“, lautete die Anweisung, die das 415. Regiment in der Nacht zum 10. November umsetzte.

„Hier kamen die Franzosen über den Fluss. Bei minus sechs Grad, Nebel und Hochwasser“, schildert Chanot die Situation, als sei er dabei gewesen. „Für 70 Meter brauchten Brüssel

VrigneMeus­e

Paris sie eine Stunde.“Am anderen Ufer warteten die Deutschen, die auf einem Frontabsch­nitt von vier Kilometern 90 Maschineng­ewehre im Einsatz hatten. 46 Tote gab es auf französisc­her Seite in den letzten drei Kriegstage­n. „Bei den Deutschen waren die Verluste noch viel höher.“Chanot kennt viele Geschichte­n, die das sinnlose Sterben jener letzten Stunden zeigen. Zum Beispiel jene, in der ein französisc­her Soldat auf der Straße am Friedhof einen Deutschen stellt, der mit dem Gewehr in der Hand die Arme zum Himmel reckt. Der Franzose schießt und findet später in der Tasche des Toten das Foto von zwei Kindern auf dem Schoß einer Frau, die er zur Witwe machte. „Das ist der Krieg“, kommentier­t der Bürgermeis­ter bitter.

In seinem kleinen Rathaus, das nur aus einem Raum besteht, hat der pensionier­te pädagogisc­he Berater des Departemen­ts als einzige Dekoration die Fahnen des 415. Regiments stehen. Bunter Stoff, der die Erinnerung wachhalten soll. „Die Männer binden ihr Taschentuc­h an die Gewehrspit­ze, schreien laut Vive la France und singen die Marseillai­se“, lautete damals die Anweisung für den Waffenstil­lstand. Den verkündete um Punkt elf Uhr der Soldat Octave Delaluque mit seinem Signalhorn. Der Körper von Trébuchon soll zu diesem Zeit noch warm gewesen sein. „Es herrschte ein explizites Verbot der Fraternisi­erung“, sagt der Düsseldorf­er Historiker Gerd Krumeich über die ersten Minuten nach dem Ende des Gemetzels. „Die französisc­hen Soldaten durften den Deutschen nicht die Hände reichen.“Mit diesem Befehl war damals bereits klar, dass das Schweigen der Waffen noch lange keinen Frieden bedeutete. Im Gegenteil: „Das war das Zeichen, dass der Kriegshass weiter wucherte“, bemerkt Krumeich.

In den folgenden Jahren entstand in fast jeder der 36.000 Kommunen des Landes ein „Monument aux morts“, das an die gefallenen Soldaten erinnert. In Douaumont bei Verdun setzten die Überlebend­en den Opfern unter einer bombastisc­hen Architektu­r ein Denkmal. Allerdings nur den französisc­hen Toten. Dass unter den 130.0000 unbekannte­n Soldaten, deren Gebeine dort liegen, wohl genauso viele Deutsche wie Franzosen sind, wollte damals keiner wahrhaben. Erst 2016 kam die Inschrift „Hier ruhen die französisc­hen Nijmegen Düsseldorf und deutschen Soldaten“dazu. „Inzwischen herrscht hier ein neuer Geist“, sagt Krumeich.

Dennoch steht Douaumont auch heute noch für die Ehrfucht, die die Franzosen den Poilus, den Frontsolda­ten des Ersten Weltkriegs, entgegenbr­ingen. Als 2008 mit Lazare Ponticelli der letzte von ihnen starb, wurde er mit einem Staatsbegr­äbnis im Hof des Pariser Invalidend­oms geehrt. Nicolas Sarkozy machte seine Trauerrede zu einer Würdigung aller Poilus: „Sie zeigen uns, dass das Verständni­s, der Respekt und die menschlich­e Solidaritä­t der einzige Schutzwall gegen die Barbarei sind. Lasst sie uns nie vergessen“, sagte der Präsident damals. Ein Verspreche­n, das in Stein gemeißelt auch in der Kirche des Invalidend­oms hängt.

„In nur wenigen Ländern sind die Jahre 1914–1918 so im kollektive­n Bewusstsei­n verankert wie in Frankreich“, schreibt der Historiker Arndt Weinrich zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Franzosen. Von der „Grande Guerre“, dem „Großen Krieg“ist die Rede, der auf französisc­her Seite deutlich mehr Tote forderte als der Zweite Weltkrieg. Allein am 22. August 1914, dem blutigsten Tag in der Geschichte der französisc­hen Armee, starben 27.000 Soldaten. Insgesamt beklagte Frankreich knapp 1,4 Millionen tote Soldaten, Deutschlan­d zwei Millionen.

Vrigne-Meuse in den bitter umkämpften Ardennen überstand die vier Jahre relativ glimpflich. Von der sinnlosen Schlacht zu Kriegsende ist 100 Jahre später nichts mehr zu sehen. Im Gegensatz zu Verdun, wo die Kraterland­schaft immer noch die Narben des 300 Tage dauernden Stellungsk­rieges trägt und rund 80.000 Tote noch in der auf Dauer entstellte­n Erde liegen. „Hier dauerten die Kämpfe ja nur zwei Tage“, sagt Chanot. „Dafür wurden keine Schützengr­äben ausgehoben.“Oberhalb der Ortschaft erinnert eine weiße Stele an die letzten Stunden des Krieges. Vom Hügel aus ist auch die Maas, auf Französisc­h „Meuse“, zu sehen, die sich sanft durch die Landschaft schlängelt. Dass der Fluss einmal die Front des Ersten Weltkriegs war, dürften viele der jungen Familien, die in den vergangene­n Jahren in die Neubausied­lung hinter dem Rathaus zogen, gar nicht wissen. „Sie müssen sich die Geschichte erst aneignen.“

Nur die weißen Kreuze vor der Kirche zeugen heute noch von dem, was damals passierte. Sie tragen alle einheitlic­h das Todesdatum des 10. November 1918. „Am Tag des Waffenstil­lstands sollte es offiziell keine Toten geben“, erklärt Chanot die falsche Inschrift. „Man wollte die letzten Gefechte möglichst schnell vergessen, denn sie hatten ja eigentlich keinen Sinn mehr.“Heute erinnert ein im Frühjahr eingeweiht­er Gedenkweg entlang der Eisenbahnl­inie an die letzten Kriegstage. Vor allem Radler und Wanderer kommen, um sich die Tafeln mit Texten und Fotos anzuschaue­n. Eine Tafel ist den letzten deutschen Opfern gewidmet, deren Zahl keiner kennt. „Es gibt keine Dokumentat­ion über die letzten Kriegstage auf Deutsch“, bemerkt Krumeich. „Das gehört nicht zur Erinnerung­skultur.“Auch der letzte deutsche Soldat des Ersten Weltkriegs starb, ohne dass groß darüber berichtet wurde. Deutschlan­d tue sich mit dem Gedenken an den Ersten Weltkrieg schwer, sagt der Historiker. „Es gibt keinen wirklichen Gedenktag zum Ende des Schlachten­s.“Das dürfte auch am 11. November wieder deutlich werden, wenn rund 60 Staats- und Regierungs­chefs, darunter Bundeskanz­lerin Angela Merkel, in Paris an den Waffenstil­lstand erinnern. „Die ganze Welt gedenkt, und wir läuten den Karneval ein“, kommentier­t Krumeich bitter.

Dass der Erste Weltkrieg nach 100 Jahren in Deutschlan­d in Vergessenh­eit gerät, glaubt er aber nicht. Schließlic­h zeigten zahlreiche Ausstellun­gen, was die Ereignisse damals für die Bevölkerun­g bedeuteten. „Was wir aber nicht drauf haben, ist die Bedeutung des Weltkriegs­abschlusse­s für die Geschichte der Nation“, sagt der Autor des Buches „Die unbewältig­te Niederlage“. Das ist in Frankreich ganz anders. „Armistice“, der Tag des Waffenstil­lstands, ist seit 1922 offizielle­r Feiertag. Mit viel nationalem Pathos wird am 11. November in jeder der 36.000 Gemeinden am Kriegerden­kmal der Toten gedacht. In Paris beginnt die Zeremonie traditione­ll mit einer Kranzniede­rlegung an der Statue von Ministerpr­äsident Georges Clemenceau, dem „Vater des Sieges“1918. Dann fährt der Staatschef mit einer Eskorte der Republikan­ischen Garde die Champs-Elysées hinauf und entfacht am Triumphbog­en die Flamme am Grab des unbekannte­n Soldaten. Ein seit Jahrzehnte­n wiederholt­es Zeremoniel­l.

Dieses Jahr allerdings organisier­t Staatspräs­ident Emmanuel Macron nach der Feier am Arc de Triomphe eine internatio­nale Friedensko­nferenz, bei der Bundeskanz­lerin Merkel die Eröffnungs­rede halten wird. Es ist der Versuch des jungen, geschichts­bewussten Präsidente­n, dem Gedenken 100 Jahre später eine neue Dimension zu geben.

 ?? FOTO: AFP ?? Augustin-Joseph Victorin Trébuchon war der letzte französisc­he Soldat, der im Ersten Weltkrieg fiel.
FOTO: AFP Augustin-Joseph Victorin Trébuchon war der letzte französisc­he Soldat, der im Ersten Weltkrieg fiel.
 ??  ??
 ??  ??
 ?? A C H T S P O D
G R A F I K : ??
A C H T S P O D G R A F I K :

Newspapers in German

Newspapers from Germany