Neuaufbau
In den Länderspielen gegen Russland und die Niederlande muss die Fußball-Nationalmannschaft die nächsten Schritte gehen.
LEIPZIG Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat jetzt Benimmregeln. Unter anderem ist künftig verboten, bei Tisch mit dem Handy zu spielen. Und damit über Vereinsund Freundschaftsgrenzen hinaus kommuniziert wird, werden (Sitz-) Gruppen aufgebrochen. Diese Regeln bestätigte der DFB-Direktor Oliver Bierhoff der „Sport-Bild“, und das Team verdankt sie der unseligen WM in Russland.
Dort wurde nicht nur schlecht gespielt, was ein jeder gut erkennen konnte. Es gab auch Grüppchen und einen Mangel an Kollegialität. Das durfte vermutet werden, wurde aber erst jetzt eingeräumt. Die DFB-Auswahl fängt also ganz von vorn an, bei den Wurzeln einer Mannschaft. Erste positive Folgen erwartet Bundestrainer Joachim Löw in den beiden letzten Spielen eines denkwürdig schlechten Jahres. Am Donnerstag (20.45 Uhr) testet seine Mannschaft in Leipzig gegen Russland; am Montag (20.45 Uhr) empfängt sie auf Schalke die Holländer in der Nations League. Erfolge sind eingeplant. „Das“, sagt Löw, „würde uns gut tun.“Und sein Kapitän Manuel Neuer erklärt: „Wir wollen zwei Spiele gewinnen, das ist das klare Ziel.“
Es reicht natürlich nicht, Ziele zu formulieren. Auch das hat die WM in Russland bewiesen. Dort war Löws Team angetreten, um den Titel zu verteidigen. Die deutsche Delegation fuhr nach einer beeindruckend schwachen Gruppenphase nach Hause. Seither wird viel vom Neuaufbau geredet. Die Öffentlichkeit tut es, die Spieler tun es, DFB-Präsident Reinhard Grindel tut es. Und er war schon im Sommer sicher, dass dieser Neuaufbau von Löw betreut werden müsse. Löw sprach von einer Reform. Irgendwann hat er die Reform durch „Neuanfang“ersetzt und ihm noch das Wörtchen „behutsam“vorangestellt. Spätestens da war klar, dass es keine Revolution geben wird. Das dürfte allerdings jeder geahnt haben, der sich mal zwei Minuten mit der Denkweise des Bundestrainers beschäftigt hat.
Die ersten Länderspiele nach der WM waren Zeugnisse eines äußerst behutsamen Neuanfangs. Löw setzte auf sein Gerüst altgedienter Weltmeister. Und im fußballerischen Stil gab es nur sehr vorsichtige Veränderungen. Das torlose Unentschieden und die unglückliche 1:2-Niederlage gegen Weltmeister Frankreich wurden von einer erfolgsentwöhnten Öffentlichkeit bereits als wertvolle Schritte nach vorn gewürdigt. Das 0:3 gegen Holland in Amsterdam war ein Rückfall in einen Fußball ohne Zusammenhang und Tempo, mit dem die DFB-Auswahl ihren Anhang in Russland gelangweilt hatte.
In den abschließenden Spielen des Jahres geht es deshalb darum, den Willen zur Veränderung auf den Rasen zu bringen. Einige Fingerzeige in die richtige Richtung bieten die Tage vor dem Jahresabschluss. So hat sich Löw entschlossen, auf einen seiner langjährigen Weggefährten zumindest vorläufig zu verzichten. Bayern Münchens Innenverteidiger Jerome Boateng steht wegen anhaltender Formschwäche nicht im Aufgebot. Öffentlich wird dem Weltmeister die Tür weiterhin aufgehalten. Der dauerhafte Verzicht auf Boateng könnte aber das sichtbare Zugeständnis Löws an all
jene sein, die eine durchgreifendere Reform verlangen. „Wir wollen jetzt auch mal unsere jüngeren Leute sehen“, sagt der Coach. Er versichert jedoch im gleichen Atemzug: „Die Jungen werden noch ein bisschen brauchen.“
Niemand erwartet, dass Löw eine U 21 auf den Platz schickt, die immerhin 2017 den Europameistertitel gewann. Aber jeder kann verlangen, dass die DFB-Auswahl viereinhalb Jahre nach dem WM-Titel von Rio mit Leidenschaft und Begeisterung ans Werk geht. Vor allem daran hat es nämlich gefehlt im trüben Fußball-Juni von Moskau und Kasan.
Bislang haben weder Löws alte Recken noch er selbst den Eindruck widerlegen können, sie seien durch Erfolge satt und abgehoben geworden. Dazu ist mehr nötig als eine Halbzeit (beim 0:0) und eine Stunde (beim 1:2) einigermaßen überzeugender Fußball gegen Weltmeister Frankreich, der nun seinerseits mit den Motivationsproblemen des Champions zu kämpfen hat. Und es ist mehr nötig als das brave Befolgen neuer Benimmregeln.