Hoffnungsträgerin im Minenfeld
Als Kamala Harris vor genau einem Jahr an der Seite von Joe Biden die US-Wahlen gewann, wurde sie bejubelt und gefeiert. Nun ist es stiller um die Vizepräsidentin geworden, es gibt negative Schlagzeilen. Warum?
Der erste Staatsbesuch ging gründlich in die Hose. Die Vizepräsidentin war nach Guatemala und Mexiko gereist, um nach einer Lösung für die Massenmigration Richtung USA zu suchen. Auf die Frage eines Journalisten, weshalb sie nicht die mexikanische Grenze besucht, reagierte Kamala Harris ausweichend, patzig, unsouverän: „Ich war auch noch nicht in Europa.“Erstaunlich für eine so kluge Politikerin, nicht nur, weil sie mit kritischen Fragen hätte rechnen müssen. Harris wurde in mehreren Interview-Trainings, die sie seit ihrem Amtsantritt durchlaufen hatte, exakt auf diese Frage vorbereitet.
Wer Harris in ihrer Rolle als Fragestellerin, etwa in einer Ausschusssitzung erlebt hat, lernte eine andere Frau kennen. Tough. Fokussiert. Rasiermesserscharf. „Hat der Präsident oder das Weiße Haus Sie jemals aufgefordert, eine Untersuchung gegen jemanden einzuleiten, ja oder nein?“, wollte sie einst von Trumps Generalstaatsanwalt Barr in einer Anhörung wissen. „Man hat mich nicht direkt gefragt…“, wich der Befragte aus. „Angedeutet?“, fasst Harris nach. – „Ich weiß nicht, ob...“– „Nahegelegt?“. Schweigen. „Sie wissen es also nicht. Okay.“
Harris fühlt sich wohl in der Rolle der Chef-Anklägerin. Man spürt: Gerichtssäle sind ihr vertrauter als das große diplomatische Parkett. Noch. Denn auch wenn sie bereits vier Jahre als Senatorin hinter sich hat, trennen sie und den Präsidenten stolze 30 Jahre im Polit-Geschäft. Doch das muss kein Nachteil sein. Ehemalige Weggefährten bescheinigen Harris eine große Lernfähigkeit. Und die Kritik, die sie einsteckt, seitdem sie ihr neues Amt bekleidet, ist Teil der Lehrjahre einer vielleicht künftigen Präsidentin.
Die 56-jährige kam im kalifornischen Oakland zur Welt, Tochter von Einwanderern aus Jamaika und Indien. Mit ihrer jüngeren Schwester wuchs sie in Berkeley und Palo Alto auf, im Herzen des Silicon Valleys. Später besuchte sie eine High School im kanadischen Montreal. Ihr Politik- und Wirtschafts-Studium absolvierte sie in Washington D.C., das juristische Staatsexamen folgte später in San Francisco. Von der Assistentin zur Generalstaatsanwältin, 2017 dann zur Senatorin – die Karriere von Kamala Harris verlief mustergültig.
Harris gilt als politisches Ausnahmetalent. Schnell wurden politische Größen auf sie aufmerksam, darunter Elizabeth Warren, Barack Obama und Joe Biden. 2019 dann die Präsidentschaftskandidatur, die sie elf Monate durchhielt, bevor ihr das Geld ausging. Lange genug, um sich dadurch für das Amt der Vizepräsidentin zu empfehlen. Alles in allem eine Bilderbuch-Karriere, die bislang ohne größere Skandale verlaufen ist.
Doch jetzt, noch kein Jahr im Amt, häufen sich die Negativ-Schlagzeilen über Bidens Vize. Wie die Washington Post erfuhr, hat Harris ihr Berater-Team inzwischen um zwei prominente Köpfe aufgestockt. Lorraine Voles und Adam Frankel, die bereits Hillary Clinton und Al Gore zur Seite standen, sollen sie bei der „strategischen Kommunikation“unterstützen. Diese Unterstützung wird Harris auch dringend benötigen. Denn die Aufgaben, die der Präsident ihr für seine Amtszeit zugewiesen hat, sind ein Minenfeld.
So soll Kamala Harris für ihren Chef das heikle mexikanische Grenzproblem lösen. Eine undankbare Aufgabe, an der schon die Präsidenten Obama und Trump scheiterten. Die Zahl der illegalen Einwanderer ist heute so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Harris setzt auf Diplomatie, möchte die Ursache an der Wurzel packen, und zwar in jenen Ländern, aus denen die Flüchtlinge stammen beziehungsweise die sie durchqueren. Die zweite Aufgabe, die die Vizepräsidentin bewältigen soll, ist noch heikler: Die Juristin soll die Republikaner daran hindern, die Wahlgesetze weiter zu verändern, zu „reformieren“, wie sie es nennen. Noch während der Amtszeit von Donald Trump hatten einige republikanisch geführte Staaten damit begonnen, die Möglichkeiten einer Stimmabgabe zum Teil massiv einzuschränken. Sie hofften, damit vor allem demokratische Wähler zu treffen. Doch die Möglichkeiten einer Vizepräsidentin sind begrenzt. Die Ausrichtung von Wahlen ist Sache der Bundesstaaten, hier eine bundesweit einheitliche Regelung zu erreichen, noch dazu eine, die keine Bevölkerungsschicht diskriminiert, ist äußerst schwierig. Biden ist sich der Komplexität dieser Aufgaben bewusst, musste er sich doch selbst als Vize unter Obama mit diesen Problemen herumschlagen.
Harris weht ein Jahr nach ihrer Wahl ein rauer Wind um die Ohren. Oder liegt das Problem gar im Auge des Betrachters? Darf nicht sein, was nicht sein darf? Die erste Frau als Vizepräsident, noch dazu schwarz, mit asiatisch-indischen Wurzeln, nur einen Herzschlag entfernt von der Präsidentschaft? Vor allem im rechts-konservativen Lager ist Harris ein rotes Tuch. Aber natürlich – und das hat nichts mit Geschlecht oder Herkunft zu tun – im Polit-Geschäft wird die Luft automatisch kälter, je näher man der Spitze kommt. Die Chancen, dass Harris Joe Biden im Amt beerben könnte, sind groß, genauer gesagt liegen sie bei 30 Prozent, statistisch betrachtet.
Von den 48 Vizepräsidenten vor ihr rückten 15 später selbst als Präsidenten auf, neun davon, weil der amtierende Präsident starb oder zurücktrat. Bereits vor seiner Wahl wurde oft über den Gesundheitszustand von Joe Biden spekuliert. Mit seinen bald 79 Jahren ist er der älteste Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Sollte er die volle Amtszeit absolvieren, 2024 gar noch einmal antreten, wäre Joe Biden bei einer erneuten Vereidigung 83 Jahre alt. Dass es dazu kommen wird, glauben nicht einmal seine Unterstützer.
Noch kein Jahr im Amt, häufen sich die Negativ-Schlagzeilen über Bidens Vize