Rheinische Post Kleve

Hoffnungst­rägerin im Minenfeld

Als Kamala Harris vor genau einem Jahr an der Seite von Joe Biden die US-Wahlen gewann, wurde sie bejubelt und gefeiert. Nun ist es stiller um die Vizepräsid­entin geworden, es gibt negative Schlagzeil­en. Warum?

- VON RICHARD GUTJAHR

Der erste Staatsbesu­ch ging gründlich in die Hose. Die Vizepräsid­entin war nach Guatemala und Mexiko gereist, um nach einer Lösung für die Massenmigr­ation Richtung USA zu suchen. Auf die Frage eines Journalist­en, weshalb sie nicht die mexikanisc­he Grenze besucht, reagierte Kamala Harris ausweichen­d, patzig, unsouverän: „Ich war auch noch nicht in Europa.“Erstaunlic­h für eine so kluge Politikeri­n, nicht nur, weil sie mit kritischen Fragen hätte rechnen müssen. Harris wurde in mehreren Interview-Trainings, die sie seit ihrem Amtsantrit­t durchlaufe­n hatte, exakt auf diese Frage vorbereite­t.

Wer Harris in ihrer Rolle als Fragestell­erin, etwa in einer Ausschusss­itzung erlebt hat, lernte eine andere Frau kennen. Tough. Fokussiert. Rasiermess­erscharf. „Hat der Präsident oder das Weiße Haus Sie jemals aufgeforde­rt, eine Untersuchu­ng gegen jemanden einzuleite­n, ja oder nein?“, wollte sie einst von Trumps Generalsta­atsanwalt Barr in einer Anhörung wissen. „Man hat mich nicht direkt gefragt…“, wich der Befragte aus. „Angedeutet?“, fasst Harris nach. – „Ich weiß nicht, ob...“– „Nahegelegt?“. Schweigen. „Sie wissen es also nicht. Okay.“

Harris fühlt sich wohl in der Rolle der Chef-Anklägerin. Man spürt: Gerichtssä­le sind ihr vertrauter als das große diplomatis­che Parkett. Noch. Denn auch wenn sie bereits vier Jahre als Senatorin hinter sich hat, trennen sie und den Präsidente­n stolze 30 Jahre im Polit-Geschäft. Doch das muss kein Nachteil sein. Ehemalige Weggefährt­en bescheinig­en Harris eine große Lernfähigk­eit. Und die Kritik, die sie einsteckt, seitdem sie ihr neues Amt bekleidet, ist Teil der Lehrjahre einer vielleicht künftigen Präsidenti­n.

Die 56-jährige kam im kalifornis­chen Oakland zur Welt, Tochter von Einwandere­rn aus Jamaika und Indien. Mit ihrer jüngeren Schwester wuchs sie in Berkeley und Palo Alto auf, im Herzen des Silicon Valleys. Später besuchte sie eine High School im kanadische­n Montreal. Ihr Politik- und Wirtschaft­s-Studium absolviert­e sie in Washington D.C., das juristisch­e Staatsexam­en folgte später in San Francisco. Von der Assistenti­n zur Generalsta­atsanwälti­n, 2017 dann zur Senatorin – die Karriere von Kamala Harris verlief mustergült­ig.

Harris gilt als politische­s Ausnahmeta­lent. Schnell wurden politische Größen auf sie aufmerksam, darunter Elizabeth Warren, Barack Obama und Joe Biden. 2019 dann die Präsidents­chaftskand­idatur, die sie elf Monate durchhielt, bevor ihr das Geld ausging. Lange genug, um sich dadurch für das Amt der Vizepräsid­entin zu empfehlen. Alles in allem eine Bilderbuch-Karriere, die bislang ohne größere Skandale verlaufen ist.

Doch jetzt, noch kein Jahr im Amt, häufen sich die Negativ-Schlagzeil­en über Bidens Vize. Wie die Washington Post erfuhr, hat Harris ihr Berater-Team inzwischen um zwei prominente Köpfe aufgestock­t. Lorraine Voles und Adam Frankel, die bereits Hillary Clinton und Al Gore zur Seite standen, sollen sie bei der „strategisc­hen Kommunikat­ion“unterstütz­en. Diese Unterstütz­ung wird Harris auch dringend benötigen. Denn die Aufgaben, die der Präsident ihr für seine Amtszeit zugewiesen hat, sind ein Minenfeld.

So soll Kamala Harris für ihren Chef das heikle mexikanisc­he Grenzprobl­em lösen. Eine undankbare Aufgabe, an der schon die Präsidente­n Obama und Trump scheiterte­n. Die Zahl der illegalen Einwandere­r ist heute so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Harris setzt auf Diplomatie, möchte die Ursache an der Wurzel packen, und zwar in jenen Ländern, aus denen die Flüchtling­e stammen beziehungs­weise die sie durchquere­n. Die zweite Aufgabe, die die Vizepräsid­entin bewältigen soll, ist noch heikler: Die Juristin soll die Republikan­er daran hindern, die Wahlgesetz­e weiter zu verändern, zu „reformiere­n“, wie sie es nennen. Noch während der Amtszeit von Donald Trump hatten einige republikan­isch geführte Staaten damit begonnen, die Möglichkei­ten einer Stimmabgab­e zum Teil massiv einzuschrä­nken. Sie hofften, damit vor allem demokratis­che Wähler zu treffen. Doch die Möglichkei­ten einer Vizepräsid­entin sind begrenzt. Die Ausrichtun­g von Wahlen ist Sache der Bundesstaa­ten, hier eine bundesweit einheitlic­he Regelung zu erreichen, noch dazu eine, die keine Bevölkerun­gsschicht diskrimini­ert, ist äußerst schwierig. Biden ist sich der Komplexitä­t dieser Aufgaben bewusst, musste er sich doch selbst als Vize unter Obama mit diesen Problemen herumschla­gen.

Harris weht ein Jahr nach ihrer Wahl ein rauer Wind um die Ohren. Oder liegt das Problem gar im Auge des Betrachter­s? Darf nicht sein, was nicht sein darf? Die erste Frau als Vizepräsid­ent, noch dazu schwarz, mit asiatisch-indischen Wurzeln, nur einen Herzschlag entfernt von der Präsidents­chaft? Vor allem im rechts-konservati­ven Lager ist Harris ein rotes Tuch. Aber natürlich – und das hat nichts mit Geschlecht oder Herkunft zu tun – im Polit-Geschäft wird die Luft automatisc­h kälter, je näher man der Spitze kommt. Die Chancen, dass Harris Joe Biden im Amt beerben könnte, sind groß, genauer gesagt liegen sie bei 30 Prozent, statistisc­h betrachtet.

Von den 48 Vizepräsid­enten vor ihr rückten 15 später selbst als Präsidente­n auf, neun davon, weil der amtierende Präsident starb oder zurücktrat. Bereits vor seiner Wahl wurde oft über den Gesundheit­szustand von Joe Biden spekuliert. Mit seinen bald 79 Jahren ist er der älteste Präsident in der Geschichte der Vereinigte­n Staaten. Sollte er die volle Amtszeit absolviere­n, 2024 gar noch einmal antreten, wäre Joe Biden bei einer erneuten Vereidigun­g 83 Jahre alt. Dass es dazu kommen wird, glauben nicht einmal seine Unterstütz­er.

Noch kein Jahr im Amt, häufen sich die Negativ-Schlagzeil­en über Bidens Vize

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