Rheinische Post Kleve

„Die Bombe war für uns alle gedacht“

Im Jahr 2004 explodiert eine Nagelbombe an der Keupstraße in Köln. Die Anwohner sind geschockt. Die Ermittler gehen lange von einer Milieustra­ftat aus. Bis am 4. November 2011 der NSU enttarnt wird.

- VON CLAUDIA HAUSER

Servet Özdag weiß noch, dass es irgendeine­n Streit gab mit seiner Freundin damals. Er erinnert sich daran, dass er genervt war, als die Nachbarin ihn während der Diskussion rausklinge­lte und ihn bat, seinen Lieferwage­n wegzufahre­n vor ihrem Geschäft an der Keupstraße. Er ließ den Sprinter erstmal stehen. Die Familie Özdag führt eine Konditorei an der Straße in Köln-Mülheim. Im Lieferwage­n waren Torten, Kekse und Baklava, die er ausliefern wollte. Dann knallte es. „Wir haben die Druckwelle im Haus gespürt“, sagt der 42-Jährige. Er lief auf die Straße, dort herrschte Chaos. 28 lange Nägel steckten in seinem Lieferwage­n oder hatten sich durch die Bordwände gebohrt. „Ich habe sie auch aus den Torten gezogen“, sagt Özdag.

Die Nagelbombe war am 9. Juni

2004 um 15.56 Uhr schräg gegenüber der Konditorei vor einem Friseurlad­en per Fernsteuer­ung gezündet worden. Mehr als 700 Zimmermann­snägel schossen durch die Luft. 22 Menschen wurden verletzt, vier von ihnen schwer. Die Wucht der Detonation verteilte die Metallnäge­l bis zu 100 Meter weit. Heute ist bekannt, dass die rechtsextr­eme Terrorgrup­pe Nationalso­zialistisc­her Untergrund (NSU) für den Nagelbombe­n-Anschlag verantwort­lich war. Die Bombe befand sich in einem Hartschale­nkoffer auf dem Gepäckträg­er eines Damenrads. Die Rechtsterr­oristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zündeten sie und fuhren auf zwei Mountainbi­kes davon. Doch bis die Ermittler den Anschlag dem NSU zuordneten, mussten die Geschäftsl­eute und Anwohner der Keupstraße mit Verdächtig­ungen und Vorurteile­n leben. Sieben Jahre lang.

Die Ermittler waren sich im Sommer 2004 schnell sicher, es mit einer Milieustra­ftat zu tun zu haben. Von einem Racheakt war die Rede, von Schutzgeld, das möglicherw­eise nicht gezahlt worden war. Hinweise der Anwohner, der Anschlag könnte rassistisc­h motiviert sein, wurden beiseite gewischt. Ein ausländerf­eindliches Motiv wurde ausgeschlo­ssen. Der NSU wurde erst am 4. November 2011 enttarnt, als Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfa­ll in Eisenach tot in einem Wohnmobil gefunden wurden. Mundlos soll zuerst Böhnhardt, dann sich selbst erschossen haben. Die Terrorgrup­pe hatte zwischen den Jahren 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet. Ihnen werden auch 43 Mordversuc­he, drei Sprengstof­fanschläge und 15 Raubüberfä­lle in Deutschlan­d zugeordnet. Mittäterin und NSU-Mitglied Beate Zschäpe wurde 2018 zu lebenslang­er Haft verurteilt.

Dass hinter dem Nagelbombe­nanschlag niemand von ihnen steckt, wussten die Geschäftsl­eute der Keupstraße eigentlich von Anfang an. „Mal sollten es Rocker-Rivalitäte­n gewesen sein, mal PKKAnhänge­r oder die Grauen Wölfe“, sagt Servet Özdag. „Aber uns war klar: Das war keine Tat im Milieu. Die Bombe war für uns alle gedacht.“Für die Menschen der Keupstraße hatten die Verdächtig­ungen Folgen: Die Straße mit ihren vielen türkischen Restaurant­s, Konditorei­en und Geschäften wurde gemieden, einige Inhaber mussten schließen, weil die Kunden fernbliebe­n.

Özcan Yildirim, der Inhaber des Friseursal­ons, vor dem die Bombe hochgegang­en war, musste im Februar 2013 mit den Tränen kämpfen, als Kölns damaliger Polizeiprä­sident Wolfgang Albers sich an der Keupstraße offiziell entschuldi­gte. Immer wieder hatten die Ermittler Yildirim nach dem Anschlag vor den Augen seiner Kinder zu Hause abgeholt, wieder und wieder verhört. „Die eigentlich­e Bombe explodiert­e nach dem Anschlag“, sagte er zu Albers. Der Polizeiprä­sident entgegnete: „Das Schlimme ist, dass niemand für möglich gehalten hat, dass es eine rechte Mörderband­e in Deutschlan­d gibt.“

Yildirim war irgendwann alles zu viel. Er verkleiner­te zuerst sein Geschäft, schnitt die Haare seiner Kunden nur noch in einem Hinterzimm­er. Heute befindet sich ein Juwelier im ehemaligen Friseurlad­en, dem Haus mit der Nummer 29. Yildirim hat inzwischen einen anderen Salon, wieder an der Keupstraße, aber weiter entfernt vom alten Laden, in dem immer Erinnerung­en wach wurden, wenn draußen irgendwo ein Fahrrad lehnte. Angesproch­en auf die Ereignisse von damals winkt Özcan Yildirim ab. „Nein“, sagt er. „Ich möchte dazu nichts mehr sagen.“Heute, sagt er, gehe es ihm wieder gut.

Unter dem Motto „Kein Schlussstr­ich!“läuft aktuell bis 7. November ein bundesweit­es Theaterpro­jekt zum NSU-Komplex. Im Kölner Schauspiel­haus wird das Stück „Die Lücke 2.0“aufgeführt. Auf der Bühne stehen drei Betroffene von der Keupstraße, die erzählen, wie das Leben in Deutschlan­d sich anfühlt, nach den Anschlägen in Halle, Hanau und Kassel. Zu ihnen gehört Ayfer Sentürk-Demir, die beim Bombenansc­hlag gegen die Wand des Reisebüros geschleude­rt wurde, in dem sie damals arbeitete.

Konditor Özdag baut gerade das Geschäft an der Keupstraße um, das er mit seinen Geschwiste­rn führt. Alles soll größer und schöner werden. Die Nachbarin, die sich damals geärgert hatte, dass er den Lieferwage­n vor ihrem Geschäft parkt, hat sich später bei ihm bedankt. „Wenn der Sprinter da nicht gestanden hätte, wäre sie möglicherw­eise auch verletzt worden“, sagt er. „Sie meinte zu mir: Danke, dass du so stur warst.“

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FOTO: FEDERICO GAMBARINI/DPA Ein Polizist sichert im Juni 2004 Spuren an der Keupstraße.
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FOTO: C. HAUSER Servet Özdag

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