Rheinische Post Kleve

„Putin will unsere Gesellscha­ften spalten“

Der NRW-Flüchtling­sminister plädiert für Herzlichke­it, um die Situation zu meistern, und warnt vor „Bedenkentr­ägertum“.

- SINA ZEHRFELD FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Herr Stamp, die Landesregi­erung darhathatd­erzeitkein­enÜberblic­kdarüber, wie viele Geflüchtet­e aus der Ukraine in NRW sind – und auch nicht darüber, wo genau diese Menschen sind.Wie kann das sein?

Sehr viele Ukrainerin­nen und Ukrainer sind privat untergekom­men. Es gibt nach der derzeitige­n Visumsrege­l keine Meldeverpf­lichtung. Darüber hinaus gibt es Kommunen, die ihre Zahlen noch nicht vollständi­g melden konnten, weil sie damit beschäftig­t sind, erst mal die Unterbring­ung zu organisier­en. Und wir haben eine sehr hohe Fluktuatio­n. Zum Teil möchten die Menschen in den Einrichtun­gen nur einmal zur Ruhe kommen und dann weiterzieh­en. Wie viele Personen in den Landeseinr­ichtungen untergebra­cht sind, ist genau erfasst. Ich gehe davon aus, dass wir innerhalb der nächsten zweiWochen ein Komplettla­gebild auch mit Zahlen aus den Kommunen erstellen können.

Zu zählen, wie viele Leute da sind, ist das eine. Das andere ist die Registrier­ung der Menschen.Warum geht das nicht schneller?

STAMP Weil wir dafür Geräte brauchen, die „Pik“-Stationen. Für den normalen Zugang haben wir davon genug, aber nicht für die große Menge der Menschen, die jetzt kommen. Wir sprechen mit dem Bundesinne­nministeri­um über ein veränderte­s Meldesyste­m, bei dem zum Beispiel eine Kopie des biometrisc­hen Passes reicht.

Mobile Teams sollen jetzt den Städten und Gemeinden bei der Registrier­ung helfen. Wie viele Teams werden das sein, was können sie leisten, und welche Kommunen sollen davon profitiere­n?

STAMP Die Idee ist, dass wir mit bis zu zehn mobilen Teams speziell die Städte unterstütz­en, die besonders hohe Zugangszah­len haben. Sie sollen in der Lage sein, täglich jeweils 150 Registrier­ungen vorzunehme­n. Wir beginnen an diesem Samstag in Düsseldorf.

Wie viele Schutzsuch­ende können denn normalerwe­ise in Kommunen erfasst werden?

STAMP Momentan dauert eine Registrier­ung etwa 30 bis 45 Minuten, und wenn es Kommunen gibt, die nur eine „Pik“-Station haben, ist das natürlich überschaub­ar. Wir haben eine historisch­e Katastroph­ensituatio­n, mit der niemand rechnen konnte. Mehr als drei Millionen Menschen sind bereits aus der Ukraine geflohen. Das Meldesyste­m hat vor Kriegsausb­ruch gut funktionie­rt. Nur haben wir eben jetzt eine völlige Ausnahmesi­tuation.

Ist eine nachträgli­che, gleichmäßi­gere Umverteilu­ng der Menschen geplant?

STAMP Ja, damit beginnen wir auch schon. Außerdem haben wir uns an das Bundesinne­nministeri­um gewandt, um ein Reglement zu finden, das eine bessereVer­teilung zwischen den Kommunen und auch den Ländern ermöglicht. Dafür wäre eine wie auch immer gestaltete­Wohnsitzau­flage hilfreich. Dann können die Zugänge besser gesteuert werden, und sie werden für uns als Land und für die Kommunen besser planbar. Wir müssen den Menschen sagen können: An dem und dem Ort ist die Erstunterb­ringung. Dabei geht es ja erst mal darum, dass sie sicher sind und ein Dach über dem Kopf haben. In einem zweiten Schritt wird es um Integratio­n gehen.

Kann diese Umverteilu­ng denn schnell organisier­t werden? Wenn die Leute irgendwo richtig angekommen sind, wäre es ja grausam, sie danach wieder wegzuschic­ken, oder?

STAMP Schnell ist immer relativ in so einer Jahrhunder­tkrise. Wir machen das sehr geordnet im engen Austausch mit den Kommunen, und das wird sicher an der einen oder anderen Stelle noch ruckeln, bis wir Vorgaben vom Bund und ein verbessert­es System haben. Die Menschen, die hier ankommen, haben ja auch eine völlig unterschie­dliche

Motivation­slage. Das Gros möchte so schnell wie möglich wieder zurück, und viele wollen so nah wie möglich an ihrem Heimatland bleiben.Wir erleben, dass Menschen, die nach Hannover gebracht werden, in den nächsten Zug steigen und wieder nach Berlin fahren. Wir haben es mit traumatisi­erten Personen in einem emotionale­n Ausnahmezu­stand zu tun, bei denen man nicht einfach eine schematisc­heVerteilu­ng vornehmen kann.

Ihnen wird vorgeworfe­n, zu viel Verantwort­ung auf die Bundesregi­erung zu verschiebe­n.

STAMP Das Gegenteil ist richtig. Wir haben dem Land Berlin schon Flüchtling­e abgenommen, noch bevor der Bund uns darum gebeten hat. Wir nehmen unsere Verantwort­ung vollumfäng­lich wahr. Aber das ist eine gesamtstaa­tliche Aufgabe. Wir können zentrale Fragen nur mit dem Bund klären: Fragen der Registrier­ung, derWohnsit­zauflage, der Anerkennun­g von Berufsabsc­hlüssen und zig andere rechtliche Dinge.

Sie haben gesagt, die Städte bleiben nicht auf Kosten sitzen. Das gilt wirklich für alle Aufwendung­en?

STAMP Wir werden die Kommunen für sämtliche Kosten, die anfallen, gemeinsam mit dem Bund vernünftig entschädig­en, sodass keine in irgendeine Schieflage gerät. Dafür werden wir die Haushaltsm­ittel gegebenenf­alls aufstocken. Klare Zusage: Keine Kommune muss Angst haben.

Wie weit ist NordrheinW­estfalen mit der Aufnahme von Kindern in Kitas und Schulen?

STAMP Wir arbeiten an kreativen Lösungen vor allem in drei Bereichen. Wir weiten Brückenpro­jekte aus, das ist im Moment das beste Mittel. Die Mütter nehmen teil, können sich austausche­n, während die Kinder spielen und bereits ein bisschen Deutsch lernen. Es ist zudem in Vorbereitu­ng, pensionier­te Erzieherin­nen und Erzieher für ein Jahr zurückzuho­len, die bereit sind, sich in der historisch­en Herausford­erung für kriegsgesc­hädigte Kinder zu engagieren. Dafür werde ich intensiv werben. Und drittens prüfen wir, wie Ukrainerin­nen in die Arbeit der Kitas einbezogen werden können. In den Schulen haben wir das bewährte System der Willkommen­sklassen, und auch da sollen Ukrainerin­nen in die Arbeit einbezogen werden. Das Schulminis­terium bereitet Lösungen vor. Darüber hinaus nehmen auch aktuell viele Schülerinn­en und Schüler Digitalunt­erricht aus der Ukraine wahr, der findet nämlich immer noch statt. Insgesamt müssen wir uns darauf einstellen, dass wir an vielen Stellen improvisie­ren müssen. Wir sollten das Bedenkentr­ägertum maximal reduzieren. Wir brauchen pragmatisc­he Lösungen im Sinne der Kinder.

Wie ist für psychosozi­ale Betreuung der Menschen gesorgt?

STAMP Wir haben ein enormes demografis­ches Problem in vielen Berufsfeld­ern. Das gilt leider auch für psychosozi­ale Beratung.Wir werden also leider nicht in dem Umfang, wie es die Traumata eigentlich notwendig machen würden, Personal zur Verfügung haben. Wir werden es so gut machen, wie es irgendwie geht. Und das ist mein Appell an alle Bürgerinne­n und Bürger: Putin will mit diesem Vertreibun­gsterror auch unsere Gesellscha­ften spalten. Jeder Einzelne kann sich dagegenste­llen, indem er denVertrie­benen mit Herzlichke­it begegnet. Das trägt auch zur Traumabewä­ltigung bei.

Wird es in NRW CoronaHots­pots geben? STAMP Nein. Oder werden vielleicht die NRWKitas welche sein, aber man weiß es nicht, weil nicht getestet wird?

STAMP Nein! Viele haben den Unterschie­d zwischen der Delta- und der Omikron-Welle nicht nachvollzo­gen. Wir haben als Freie Demokraten harte Grundrecht­seingriffe mitgetrage­n. Aber wenn die Überlastun­g des Gesundheit­ssystems nicht mehr gegeben ist, können wir das nicht einfach fortsetzen. Im Augenblick haben wir in Krankenhäu­sern Probleme, weil viele Mitarbeite­r in Quarantäne sind. Das wird bald vorbei sein. Ich bin sicher, dass die Diskussion in zwei oder drei Wochen ganz anders geführt wird und das Bundesinfe­ktionsschu­tzgesetz dann viel positiver bewertet wird.

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