Rheinische Post Kleve

Viel Gefühl, aber wenig Konkretes

Der Westen sucht den Schultersc­hluss – in Form eines Gipfelmara­thons von Nato, G7 und EU. Doch die Verhandlun­gen sind zäh.

- VON GREGOR MAYNTZ

Die Superlativ­e liegen griffberei­t bei diesem Gipfelmara­thon. Noch nie sei die Nato so geeint gewesen wie heute, meinte US-Präsident Joe Biden, der nicht nur wie üblich am Nato- und G7-Gipfel teilnahm, sondern als besonderer Gast anschließe­nd auch beim EU-Gipfel dabeiblieb. Ein besonderes Zeichen, das die Einheit des Westens angesichts des russischen Angriffskr­ieges unterstrei­chen sollte.

Am nächsten Morgen hat sich die Begeisteru­ng etwas gelegt. „Fantastisc­h“, schwärmt zwar noch Krisjanis Karins, Ministerpr­äsident Lettlands, sei die Erfahrung, wie die Europäer gerade aus unterschie­dlichsten Positionen zu einer gemeinsame­n Linie zusammenfä­nden. Belgiens Premier Alexander De Croo ist da zurückhalt­ender. „Es darf nicht bei großen Worten bleiben, wir müssen zu konkretem Handeln kommen“, sagt er beim Betreten des Ratsgebäud­es am zweiten Gipfeltag. Er sollte mit seiner Skepsis recht behalten.

Zwar hatte sich die Runde der 27 amVorabend bereits darauf verständig­t, einen „Solidaritä­ts-Treuhandfo­nds für die Ukraine zu entwickeln“ und dafür „unverzügli­ch mit den Vorbereitu­ngen zu beginnen“. Die EU-Kommission möge der Ukraine deshalb technische Unterstütz­ung geben bei der „Umsetzung der notwendige­n Reformen“. Doch sehr konkret klingt das nicht. Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor per Videoschal­te im Nato-Teil der Gipfeltref­fen sehr konkret um ein Prozent der Panzer und ein Prozent der Kampfjets der Nato-Mitglieder gebeten, um sein Land selbst verteidige­n zu können, wenn es die Nato eben ablehnt, eine Flugverbot­szone zum Schutz der Menschen vor Bombardier­ungen aufzubauen. Doch die Angesproch­enen sagen lediglich zu, weitere Waffen zu liefern und zu prüfen, ob auch Schiffsabw­ehrraketen hinzukomme­n können. Panzer und Jets gibt es jedenfalls erst einmal nicht.

Relativ problemlos geben die Gipfelteil­nehmer am Freitag grünes Licht für den neuen „strategisc­hen Kompass“. Sie verpflicht­en sich dazu, mehr Geld in die Verteidigu­ng zu stecken und eine 5000 Soldatinne­n und Soldaten starke schnelle Eingreiftr­uppe zu stellen, um das Gewicht Europas bei der Verteidigu­ng Europas zu vergrößern, sich nicht nur auf transatlan­tischen Beistand zu verlassen. So hatte es Biden zuvor auch bei der verstärkte­n Nato-Präsenz in den osteuropäi­schen Nato-Mitglieder­n durchblick­en lassen. Kurzfristi­g mehr Waffen und Truppen nach Osten, um die Abschrecku­ng glaubwürdi­ger zu machen – ja. Aber eine Verlegung auf Dauer – nein. Da sieht er die Europäer zuerst in der Pflicht.

Gemessen an den wichtigste­n Themen verschafft der „Kompass“den Staats- und Regierungs­chefs im Gipfel-Marathon etwas Zeit für kurzfristi­ge Entspannun­g. Denn da baut sich am Horizont mit dem Thema „Energie“eine hohe Wand aus Widersprüc­hen auf. Auf eine Formel können sie sich schnell verständig­en: „So schnell wie möglich“wollen sie die Abhängigke­it von Kohle, Öl und Gas aus Russland beenden. Damit einhergehe­nd sollen die daraus folgenden Belastunge­n sowohl für die Verbrauche­r als auch für die Staatshaus­halte „so niedrig wie möglich“sein.

Doch was heißt „so schnell wie möglich“? Für den Letten Karins heißt das eher „sofort“, und er ruft seinen Kollegen im Rat zu: „Es ist nur Geld.“Doch Bundeskanz­ler Olaf Scholz hatte sich schon vorher auf ein eher maßvolles Ausschleic­hen aus der Abhängigke­it festgelegt, weil sonst eine Rezession Hunderttau­sende Arbeitsplä­tze gefährde. Der andere Bundeskanz­ler, Karl Nehammer aus Wien, unterstütz­t ihn: „Es wird mit uns kein Embargo für Gas und Öl geben.“

Aber was dann? De Croo aus Belgien verweist auf die Erfahrunge­n, die die EU in der Corona-Krise sammeln konnte: „Zusammen ankaufen, das hilft uns allen“, lautet seine Empfehlung. Einen wichtigen Meilenstei­n auf diesem Weg konnte Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen bereits am Morgen verkünden: Die Einigung mit Biden auf mehr Flüssiggas-Lieferunge­n. 15 Milliarden Kubikmeter LNG für Europa zusätzlich noch in diesem Jahr. Zudem wollen die EU-Staaten aufhören, sich beim Gaskauf gegenseiti­g Konkurrenz zu machen, um so nicht länger die Preise zu treiben. Scholz betont, dass der gemeinsame Einkauf freiwillig bleibe.

Mehrfach wird der Gipfel gleichwohl unterbroch­en. Vor allem die Frage von Eingriffen in den Markt beschäftig­t die Teilnehmer. Spanien will es, auch andere Südländer plädieren für Preisdecke­l. Viele weitere Modelle liegen auf dem Tisch. Die Lösung nach stundenlan­gem Ringen: Dazu soll die Kommission bis Mai Vorschläge machen.

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FOTO: DPA Bundeskanz­ler Olaf Scholz spricht am Rande des EUGipfels mit EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen.

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