Viel Gefühl, aber wenig Konkretes
Der Westen sucht den Schulterschluss – in Form eines Gipfelmarathons von Nato, G7 und EU. Doch die Verhandlungen sind zäh.
Die Superlative liegen griffbereit bei diesem Gipfelmarathon. Noch nie sei die Nato so geeint gewesen wie heute, meinte US-Präsident Joe Biden, der nicht nur wie üblich am Nato- und G7-Gipfel teilnahm, sondern als besonderer Gast anschließend auch beim EU-Gipfel dabeiblieb. Ein besonderes Zeichen, das die Einheit des Westens angesichts des russischen Angriffskrieges unterstreichen sollte.
Am nächsten Morgen hat sich die Begeisterung etwas gelegt. „Fantastisch“, schwärmt zwar noch Krisjanis Karins, Ministerpräsident Lettlands, sei die Erfahrung, wie die Europäer gerade aus unterschiedlichsten Positionen zu einer gemeinsamen Linie zusammenfänden. Belgiens Premier Alexander De Croo ist da zurückhaltender. „Es darf nicht bei großen Worten bleiben, wir müssen zu konkretem Handeln kommen“, sagt er beim Betreten des Ratsgebäudes am zweiten Gipfeltag. Er sollte mit seiner Skepsis recht behalten.
Zwar hatte sich die Runde der 27 amVorabend bereits darauf verständigt, einen „Solidaritäts-Treuhandfonds für die Ukraine zu entwickeln“ und dafür „unverzüglich mit den Vorbereitungen zu beginnen“. Die EU-Kommission möge der Ukraine deshalb technische Unterstützung geben bei der „Umsetzung der notwendigen Reformen“. Doch sehr konkret klingt das nicht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor per Videoschalte im Nato-Teil der Gipfeltreffen sehr konkret um ein Prozent der Panzer und ein Prozent der Kampfjets der Nato-Mitglieder gebeten, um sein Land selbst verteidigen zu können, wenn es die Nato eben ablehnt, eine Flugverbotszone zum Schutz der Menschen vor Bombardierungen aufzubauen. Doch die Angesprochenen sagen lediglich zu, weitere Waffen zu liefern und zu prüfen, ob auch Schiffsabwehrraketen hinzukommen können. Panzer und Jets gibt es jedenfalls erst einmal nicht.
Relativ problemlos geben die Gipfelteilnehmer am Freitag grünes Licht für den neuen „strategischen Kompass“. Sie verpflichten sich dazu, mehr Geld in die Verteidigung zu stecken und eine 5000 Soldatinnen und Soldaten starke schnelle Eingreiftruppe zu stellen, um das Gewicht Europas bei der Verteidigung Europas zu vergrößern, sich nicht nur auf transatlantischen Beistand zu verlassen. So hatte es Biden zuvor auch bei der verstärkten Nato-Präsenz in den osteuropäischen Nato-Mitgliedern durchblicken lassen. Kurzfristig mehr Waffen und Truppen nach Osten, um die Abschreckung glaubwürdiger zu machen – ja. Aber eine Verlegung auf Dauer – nein. Da sieht er die Europäer zuerst in der Pflicht.
Gemessen an den wichtigsten Themen verschafft der „Kompass“den Staats- und Regierungschefs im Gipfel-Marathon etwas Zeit für kurzfristige Entspannung. Denn da baut sich am Horizont mit dem Thema „Energie“eine hohe Wand aus Widersprüchen auf. Auf eine Formel können sie sich schnell verständigen: „So schnell wie möglich“wollen sie die Abhängigkeit von Kohle, Öl und Gas aus Russland beenden. Damit einhergehend sollen die daraus folgenden Belastungen sowohl für die Verbraucher als auch für die Staatshaushalte „so niedrig wie möglich“sein.
Doch was heißt „so schnell wie möglich“? Für den Letten Karins heißt das eher „sofort“, und er ruft seinen Kollegen im Rat zu: „Es ist nur Geld.“Doch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte sich schon vorher auf ein eher maßvolles Ausschleichen aus der Abhängigkeit festgelegt, weil sonst eine Rezession Hunderttausende Arbeitsplätze gefährde. Der andere Bundeskanzler, Karl Nehammer aus Wien, unterstützt ihn: „Es wird mit uns kein Embargo für Gas und Öl geben.“
Aber was dann? De Croo aus Belgien verweist auf die Erfahrungen, die die EU in der Corona-Krise sammeln konnte: „Zusammen ankaufen, das hilft uns allen“, lautet seine Empfehlung. Einen wichtigen Meilenstein auf diesem Weg konnte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits am Morgen verkünden: Die Einigung mit Biden auf mehr Flüssiggas-Lieferungen. 15 Milliarden Kubikmeter LNG für Europa zusätzlich noch in diesem Jahr. Zudem wollen die EU-Staaten aufhören, sich beim Gaskauf gegenseitig Konkurrenz zu machen, um so nicht länger die Preise zu treiben. Scholz betont, dass der gemeinsame Einkauf freiwillig bleibe.
Mehrfach wird der Gipfel gleichwohl unterbrochen. Vor allem die Frage von Eingriffen in den Markt beschäftigt die Teilnehmer. Spanien will es, auch andere Südländer plädieren für Preisdeckel. Viele weitere Modelle liegen auf dem Tisch. Die Lösung nach stundenlangem Ringen: Dazu soll die Kommission bis Mai Vorschläge machen.