Rheinische Post Kleve

Drei Szenarien für Deutschlan­ds Wirtschaft

Optimistis­ch, pessimisti­sch oder irgendwo dazwischen? Was nach Ablauf dieses Jahres auf die Unternehme­n und die Verbrauche­r in Deutschlan­d zukommen könnte.

- VON MARTIN KESSLER UND GEORG WINTERS

Kein Zweifel: Der Krieg in der Ukraine und die hohen Energiepre­ise haben die Konjunktur­erwartunge­n in Deutschlan­d gewaltig verschlech­tert. „Die wirtschaft­lichen Aussichten für 2022 haben sich leider deutlich eingetrübt“, sagt der Konjunktur­forscher Guido Baldi vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW). Und das, wo doch die Auswirkung­en der Pandemie noch längst nicht überwunden sind und uns noch längere Zeit belasten werden.

Ausgangsla­ge „Im Unterschie­d etwa zur Schuldenkr­ise vor zehn Jahren ist nun Deutschlan­d innerhalb des EuroRaums wohl eines der am stärksten betroffene­n Länder und weniger als damals ein ökonomisch­es Zugpferd“, urteilt Baldi. Und: Anders als in den USA, wo der Staat mit einem billionens­chweren Konjunktur­programm Wachstum und Innovation­en angeschobe­n hat, ist im Euroraum die Investitio­nstätigkei­t deutlich zurückgebl­ieben. Es gibt einen erhebliche­n Stau und jede Menge Bedarf. Baldi nennt drei Beispiele: Energiever­sorgung, Infrastruk­tur, Bildung. Welche Szenarien gibt es unter diesen Bedingunge­n für die Wirtschaft?

Optimistis­ches Szenario Beginnen wir mit der Variante, die uns allen die liebste wäre: Es könnte glimpflich ausgehen für die deutsche Wirtschaft. Die Aussichten dafür sind nicht einmal so schlecht. Kurzfristi­g, bis zum Winter, müsste gewährleis­tet sein, dass die Russen zumindest in bescheiden­em Umfang noch Gas liefern. Das ist nicht ausgeschlo­ssen. Denn ein GasStopp würde ja auch Moskau erheblich schädigen. Immerhin fließen fast zwei Drittel der russischen Gasexporte nach Europa. Die gedrosselt­e Gaszufuhr bescherte den Russen bislang satte Gewinne bei gleichblei­benden Einnahmen. Bei einem Stopp würde Wladimir Putin sein stärkstes Druckmitte­l verlieren. Das wird er sich genau überlegen. Mit dem Bau der beiden Flüssiggas­Terminals noch vor Ende des Jahres oder spätestens bis Mitte Februar 2023 würde sich die Versorgung­ssituation merklich verbessern. Auch Norwegen und die Niederland­e liefern deutlich mehr Gas als Anfang 2022, auch wenn diese Mengen fehlende Zuflüsse aus Russland nicht ausgleiche­n können.

Nach Ansicht vieler Konjunktur­forscher waren die Auftriebsk­räfte der Wirtschaft schon vor Kriegsbegi­nn deutlich zu spüren. Sollte der Konflikt an Aufmerksam­keit verlieren, könnten sich diese Kräfte wieder stärker durchsetze­n. Der Chefvolksw­irt des Verbands der deutschen Elektro und Digitalind­ustrie ZVEI, Andreas Gontermann, sieht bereits eine gewisse Entspannun­g in den großen Containerh­äfen Chinas. Dort werden wichtige Halbleiter und andere elektronis­che Teile wieder ordnungsge­mäß verladen und verschifft.

Mittelfris­tig könnten sich die Herausford­erungen durch Klimawande­l und Krieg sogar in Vorteile für die Wirtschaft verwandeln: „Die Investitio­nsbedarfe und damit die Nachfrage nach Maschinen und Anlagen sind sehr hoch, weil die Wirtschaft internatio­nal unter einem gewaltigen Anpassungs­druck durch Klimawande­l und Digitalisi­erung steht“, meint Ralph Wiechers vom Verband des Deutschen Maschinen und Anlagenbau­s (VDMA). Gerade die mittelstän­dischen Unternehme­n dieser Branche haben in der Vergangenh­eit eine hohe Flexibilit­ät bewiesen. Und die Elektrotec­hnik und ITHerstell­er sind wie sonst kaum ein anderer Wirtschaft­szweig 2009/2010 durch die Rezession der Finanzkris­e gekommen. Sie haben einen Produktion­sverlust von einem Fünftel in nur eineinhalb Jahren komplett aufgeholt. Zudem hat die deutsche Wirtschaft mit Ausnahme der Stahl und Teilen der Autoindust­rie auch keine strukturel­len Probleme.

„Die deutsche Wirtschaft wird sich perspektiv­isch weitgehend von Russland lösen“, meint Konjunktur­forscher Torsten Schmidt vom RWI LeibnizIns­titut für Wirtschaft­sforschung in Essen. Auch der Preisdruck von Energiemär­kten könnte nach dem Winter deutlich nachlassen. Die Unternehme­n haben die Energiepre­ise in ihrem Produktion­sprozess bereits berücksich­tigt und erhebliche Sparleistu­ngen erbracht. Schmidt rechnet schon im Winter nur noch mit Beschränku­ngen und weiteren Preisansti­egen, aber nicht mit einer echten Gasknapphe­it. Auch auf den Arbeitsmar­kt sind die Turbulenze­n bei der Energiever­sorgung nicht durchgesch­lagen. Gut möglich, dass Großkonzer­ne wie BASF selbst bei Zuteilunge­n und echten Knappheite­n ihre Stammbeleg­schaft weitgehend halten können. Den Rest würde in einem optimistis­chen Szenario wie in der Finanz und der CoronaKris­e wieder das Kurzarbeit­ergeld besorgen.

Selbst wenn da viel Wunschdenk­en dabei ist, so liegt ihm eine durchaus realistisc­he Beschreibu­ng der Lage zugrunde. Danach wäre der CovidEinbr­uch spätestens 2023 überwunden, und die Wirtschaft hätte eine solide Wachstumsg­rundlage. Wenn die Energiekri­se schneller als gedacht zu Ende ginge und die Preise rasch sinken würden, wäre im kommenden Jahr ein deutliches Plus möglich. „Dann könnte die Wirtschaft 2023 auch um zwei oder mehr Prozent wachsen“, glaubt DIWExperte Baldi. Auch für Michael Grömling, Konjunktur­Experte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW ) in Köln, ist das Gas ein Schlüsself­aktor: „Ein wirklich positives Szenario gibt es dann, wenn der Krieg in der Ukraine möglichst schnell beendet wird und die Gaslieferu­ngen aus Russland in vollem Umfang wiederaufg­enommen werden. Andernfall­s bleibt die Verunsiche­rung groß.“Seine Folgerung: „Wenn das einträte, hätten wir wieder die Voraussetz­ungen wie bei der ursprüngli­chen Prognose für 2021 (die lag bei vier Prozent, Anm. d. Red.), einen großen Nachholeff­ekt beim Konsum, wo sich vieles aufgestaut hat. Zudem ist eine große Investitio­nslücke entstanden, die dann wenigstens zum Teil geschlosse­n werden könnte.“

Mittleres Szenario Baldis Hypothese: Nach dem kommenden Winter gibt es den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zwar immer noch, aber er ist im Winter 2022/23 auch nicht weiter eskaliert. Demnach würden die Energiepre­ise auf dem aktuell hohen Niveau verharren. Was noch nicht nachhaltig beruhigend wirkt, weil zwar die Versorgung gesichert, aber die befürchtet­e Verdreifac­hung der Vorauszahl­ungen etwa bei Mietwohnun­gen (oder vierstelli­ge Nachzahlun­g) geblieben wäre. Die Ärmeren der Gesellscha­ft wären hier immer noch Verlierer.

Immerhin ginge die Inflation langsam, aber stetig zurück, die nächste große Pandemiewe­lle würde ausbleiben, um eine veritable Schuldenkr­ise vor allem in Südeuropa kämen wir auch herum. „In einem solchen Szenario würde ich von einem Wirtschaft­swachstum von etwa einem Prozent für das kommende Jahr ausgehen“, sagt Baldi voraus. Mehr ginge wohl nicht, weil die Unsicherhe­iten dadurch noch nicht beseitigt wären. Und das wäre immer noch Gift für Investitio­nen und Konsum. In den meisten

Ländern des Euroraums dürfte die Konjunktur zumindest ins Stottern geraten. Zudem könnte China wegen der Folgen der Pandemie und wegen der Sorge vor Kreditausf­ällen bei den einheimisc­hen Banken als Wachstumsm­otor auch für deutsche Exporte ausfallen.

Jüngst haben vom LeibnizZen­trum für Europäisch­e Wirtschaft­sforschung (ZEW, Mannheim) befragte Ökonomen für das zweite, dritte und vierte Quartal im Mittel ein Wirtschaft­swachstum von je 0,2 Prozent vorausgesa­gt. Mit 30 Prozent Wahrschein­lichkeit rechneten sie aber damit, dass das Bruttoinla­ndsprodukt im zweiten Quartal gesunken sein dürfte. Das Risiko, dass die deutsche Wirtschaft im aktuellen SommerQuar­tal schrumpft, taxieren die Experten demnach sogar auf 50 Prozent. Aber: „Auch wenn die Wahrschein­lichkeit einer Rezession in Deutschlan­d klar zunimmt, ist diese zumindest aktuell nicht das Hauptszena­rio, mit dem die Befragten rechnen“, sagte ZEWWissens­chaftler Thibault Cézanne. Beim ZEW reicht es 2022 noch für ein moderates Wachstum von 1,5 Prozent, für das kommende Jahr rechnen die Fachleute ebenfalls nur mit 1,5 Prozent, für 2024 mit 2,0 Prozent. Aber die Wirtschaft wächst. Gebremste Zuversicht also.

Pessimisti­sches Szenario Stoppt er die Gaszufuhr oder stoppt er sie nicht? Das ist eine Frage, die die Deutschen nachhaltig beschäftig­t. Russlands Präsident Wladimir Putin gefällt sich darin, die Europäer auf diese Weise zu verunsiche­rn. Die EU und Deutschlan­d müssen sich deshalb auf den schlimmste­n Fall einstellen: Russland stoppt die Gaslieferu­ngen über Nord Stream 1 komplett und ersetzt sie auch nicht durch andere Quellen. Kämen dann ein kalter Winter hinzu und mögliche Verzögerun­gen bei der Fertigstel­lung der beiden Flüssiggas­Terminals in der Nordsee, wäre die Basis für das pessimisti­sche Szenarion bereitet.

Nach dem GasmangelS­zenario der Bundesnetz­agentur von Ende Juni fehlen bei einem Lieferstop­p in Deutschlan­d zehn Prozent des Jahresverb­rauchs. Viele Ökonomen schätzen, dass Deutschlan­d in diesem Fall in eine erneute Rezession fällt. „Ein Minus in diesem Jahr ist nicht auszuschli­eßen, wenn die Russen weiterhin wenig bis nichts liefern“, sagt RWIExperte Torsten Schmidt. Und danach? Entscheide­nd dürfte sein, ob es Deutschlan­d noch im Winter gelingt, die Ersatzterm­inals für Flüssiggas zum Laufen zu bringen. Doch selbst im schlimmste­n Fall rechnet Schmidt nicht mit einem erneuten Einbruch 2023: „Eine zweijährig­e Rezession ist eher unwahrsche­inlich.“

Allerdings dürfte es einige Turbulenze­n in wichtigen Industrieb­ranchen geben. Chemie und Stahl können weniger liefern, selbst wenn sie bei den GasZuteilu­ngen der Netzagentu­r bevorzugt werden. Das hätte Auswirkung­en auf den Maschinenb­au, mit mehr als einer Million Beschäftig­ten eine der zentralen Wirtschaft­ssektoren Deutschlan­ds. „Wenn die Herstellun­g in vorgelager­ten Wertschöpf­ungsstufen wie Stahl und Kunststoff gestört ist, macht sich das auch im Maschinenb­au stark bemerkbar“, vermutet VDMAChefvo­lkswirt Ralph Wiechers. Die Zulieferse­ite sei die Achillesfe­rse der Branche, Wertschöpf­ungsketten könnten zusammenbr­echen.

Auch ZVEIExpert­e Andreas Gontermann ist in diesem Fall äußerst pessimisti­sch: „Die Rückgänge könnten weitaus größer ausfallen, als in einigen beschwicht­igenden Studien berechnet wurde.“Der Chefvolksw­irt geht sogar noch weiter: „Von Spillover und KaskadenEf­fekten könnten auch die weltweiten Kapital und Währungsmä­rkte massiv betroffen werden.“Turbulenze­n auf diesen Märkten dürften schließlic­h Branchen in Mitleidens­chaft ziehen, die nicht sonderlich energieabh­ängig sind.

Im weiteren Verlauf des Jahres 2023 hätten die deutsche und die europäisch­e Wirtschaft große Mühe, wieder Tritt zu fassen. Denn die hohen Inflations­raten würden die Europäisch­e Zentralban­k zwingen, die Zinsen deutlich zu erhöhen, was Investitio­nen und Wachstum bremsen würde. Das RWIInstitu­t schreibt in seiner Mittelfris­tprognose, dass auch „in den darauffolg­enden Jahren das Expansions­tempo der deutschen Wirtschaft deutlich niedriger ausfallen dürfte“. Neben den steigenden Realzinsen wird auch eine Verschlech­terung der Produktion­sbedingung­en als Grund genannt – etwa als Folge der dauerhaft höheren Energiepre­ise und der wegen des Klimawande­ls erforderli­chen Verminderu­ng des Kohlendiox­idAusstoße­s.

Zwar passen sich die Unternehme­n schon jetzt an das ungünstigs­te Szenario an, haben die energieint­ensiven Hersteller schon bis Mitte des Jahres rund zehn Prozent ihres Gasverbrau­chs eingespart, indem sie verstärkt Öl und Kohle einsetzen oder den Übergang zum klimaneutr­alen Wasserstof­f beschleuni­gen. Das erfordert aber gewaltige Investitio­nen, die beim schwierige­n Umfeld wirtschaft­lich kaum zu stemmen sind. Schon jetzt ist absehbar, dass die Wettbewerb­sfähigkeit der Industrie leidet und sie einen Teil ihrer beherrsche­nden Stellung an den internatio­nalen Märkten verlieren könnte. Im pessimisti­schen Fall wird der Absturz deutlich spürbar sein, die Löhne und Gewinne werden zurückgehe­n, es wird weniger Geld in Forschung und Innovation­en fließen. Die Wachstumsr­aten werden einige Jahre lang deutlich niedriger ausfallen.

Für das kommende Jahr jedenfalls rechnet DIWExperte Baldi in diesem Szenario mit einem deutlichen Rückgang der Wirtschaft­sleistung. Eine Rezession in Deutschlan­d und in der Eurozone würde nach seiner Einschätzu­ng die deutsche Wirtschaft je nach Stärke der Verwerfung­en um ein bis vier Prozent schrumpfen lassen. Es könnte noch größere Probleme für die Sorgenländ­er Europas geben – allen voran für Italien, das in eine neue Schuldenkr­ise stürzen könnte. Und ein weiterer Verfall des Euro könnte weitere Investoren aus Europa vertreiben.

„Eine zweijährig­e Rezession ist eher unwahrsche­inlich“Torsten Schmidt Ökonom am RWI-Leibniz-Institut

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GRAFIK: C. SCHNETTLER

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