Drei Szenarien für Deutschlands Wirtschaft
Optimistisch, pessimistisch oder irgendwo dazwischen? Was nach Ablauf dieses Jahres auf die Unternehmen und die Verbraucher in Deutschland zukommen könnte.
Kein Zweifel: Der Krieg in der Ukraine und die hohen Energiepreise haben die Konjunkturerwartungen in Deutschland gewaltig verschlechtert. „Die wirtschaftlichen Aussichten für 2022 haben sich leider deutlich eingetrübt“, sagt der Konjunkturforscher Guido Baldi vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Und das, wo doch die Auswirkungen der Pandemie noch längst nicht überwunden sind und uns noch längere Zeit belasten werden.
Ausgangslage „Im Unterschied etwa zur Schuldenkrise vor zehn Jahren ist nun Deutschland innerhalb des EuroRaums wohl eines der am stärksten betroffenen Länder und weniger als damals ein ökonomisches Zugpferd“, urteilt Baldi. Und: Anders als in den USA, wo der Staat mit einem billionenschweren Konjunkturprogramm Wachstum und Innovationen angeschoben hat, ist im Euroraum die Investitionstätigkeit deutlich zurückgeblieben. Es gibt einen erheblichen Stau und jede Menge Bedarf. Baldi nennt drei Beispiele: Energieversorgung, Infrastruktur, Bildung. Welche Szenarien gibt es unter diesen Bedingungen für die Wirtschaft?
Optimistisches Szenario Beginnen wir mit der Variante, die uns allen die liebste wäre: Es könnte glimpflich ausgehen für die deutsche Wirtschaft. Die Aussichten dafür sind nicht einmal so schlecht. Kurzfristig, bis zum Winter, müsste gewährleistet sein, dass die Russen zumindest in bescheidenem Umfang noch Gas liefern. Das ist nicht ausgeschlossen. Denn ein GasStopp würde ja auch Moskau erheblich schädigen. Immerhin fließen fast zwei Drittel der russischen Gasexporte nach Europa. Die gedrosselte Gaszufuhr bescherte den Russen bislang satte Gewinne bei gleichbleibenden Einnahmen. Bei einem Stopp würde Wladimir Putin sein stärkstes Druckmittel verlieren. Das wird er sich genau überlegen. Mit dem Bau der beiden FlüssiggasTerminals noch vor Ende des Jahres oder spätestens bis Mitte Februar 2023 würde sich die Versorgungssituation merklich verbessern. Auch Norwegen und die Niederlande liefern deutlich mehr Gas als Anfang 2022, auch wenn diese Mengen fehlende Zuflüsse aus Russland nicht ausgleichen können.
Nach Ansicht vieler Konjunkturforscher waren die Auftriebskräfte der Wirtschaft schon vor Kriegsbeginn deutlich zu spüren. Sollte der Konflikt an Aufmerksamkeit verlieren, könnten sich diese Kräfte wieder stärker durchsetzen. Der Chefvolkswirt des Verbands der deutschen Elektro und Digitalindustrie ZVEI, Andreas Gontermann, sieht bereits eine gewisse Entspannung in den großen Containerhäfen Chinas. Dort werden wichtige Halbleiter und andere elektronische Teile wieder ordnungsgemäß verladen und verschifft.
Mittelfristig könnten sich die Herausforderungen durch Klimawandel und Krieg sogar in Vorteile für die Wirtschaft verwandeln: „Die Investitionsbedarfe und damit die Nachfrage nach Maschinen und Anlagen sind sehr hoch, weil die Wirtschaft international unter einem gewaltigen Anpassungsdruck durch Klimawandel und Digitalisierung steht“, meint Ralph Wiechers vom Verband des Deutschen Maschinen und Anlagenbaus (VDMA). Gerade die mittelständischen Unternehmen dieser Branche haben in der Vergangenheit eine hohe Flexibilität bewiesen. Und die Elektrotechnik und ITHersteller sind wie sonst kaum ein anderer Wirtschaftszweig 2009/2010 durch die Rezession der Finanzkrise gekommen. Sie haben einen Produktionsverlust von einem Fünftel in nur eineinhalb Jahren komplett aufgeholt. Zudem hat die deutsche Wirtschaft mit Ausnahme der Stahl und Teilen der Autoindustrie auch keine strukturellen Probleme.
„Die deutsche Wirtschaft wird sich perspektivisch weitgehend von Russland lösen“, meint Konjunkturforscher Torsten Schmidt vom RWI LeibnizInstitut für Wirtschaftsforschung in Essen. Auch der Preisdruck von Energiemärkten könnte nach dem Winter deutlich nachlassen. Die Unternehmen haben die Energiepreise in ihrem Produktionsprozess bereits berücksichtigt und erhebliche Sparleistungen erbracht. Schmidt rechnet schon im Winter nur noch mit Beschränkungen und weiteren Preisanstiegen, aber nicht mit einer echten Gasknappheit. Auch auf den Arbeitsmarkt sind die Turbulenzen bei der Energieversorgung nicht durchgeschlagen. Gut möglich, dass Großkonzerne wie BASF selbst bei Zuteilungen und echten Knappheiten ihre Stammbelegschaft weitgehend halten können. Den Rest würde in einem optimistischen Szenario wie in der Finanz und der CoronaKrise wieder das Kurzarbeitergeld besorgen.
Selbst wenn da viel Wunschdenken dabei ist, so liegt ihm eine durchaus realistische Beschreibung der Lage zugrunde. Danach wäre der CovidEinbruch spätestens 2023 überwunden, und die Wirtschaft hätte eine solide Wachstumsgrundlage. Wenn die Energiekrise schneller als gedacht zu Ende ginge und die Preise rasch sinken würden, wäre im kommenden Jahr ein deutliches Plus möglich. „Dann könnte die Wirtschaft 2023 auch um zwei oder mehr Prozent wachsen“, glaubt DIWExperte Baldi. Auch für Michael Grömling, KonjunkturExperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW ) in Köln, ist das Gas ein Schlüsselfaktor: „Ein wirklich positives Szenario gibt es dann, wenn der Krieg in der Ukraine möglichst schnell beendet wird und die Gaslieferungen aus Russland in vollem Umfang wiederaufgenommen werden. Andernfalls bleibt die Verunsicherung groß.“Seine Folgerung: „Wenn das einträte, hätten wir wieder die Voraussetzungen wie bei der ursprünglichen Prognose für 2021 (die lag bei vier Prozent, Anm. d. Red.), einen großen Nachholeffekt beim Konsum, wo sich vieles aufgestaut hat. Zudem ist eine große Investitionslücke entstanden, die dann wenigstens zum Teil geschlossen werden könnte.“
Mittleres Szenario Baldis Hypothese: Nach dem kommenden Winter gibt es den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zwar immer noch, aber er ist im Winter 2022/23 auch nicht weiter eskaliert. Demnach würden die Energiepreise auf dem aktuell hohen Niveau verharren. Was noch nicht nachhaltig beruhigend wirkt, weil zwar die Versorgung gesichert, aber die befürchtete Verdreifachung der Vorauszahlungen etwa bei Mietwohnungen (oder vierstellige Nachzahlung) geblieben wäre. Die Ärmeren der Gesellschaft wären hier immer noch Verlierer.
Immerhin ginge die Inflation langsam, aber stetig zurück, die nächste große Pandemiewelle würde ausbleiben, um eine veritable Schuldenkrise vor allem in Südeuropa kämen wir auch herum. „In einem solchen Szenario würde ich von einem Wirtschaftswachstum von etwa einem Prozent für das kommende Jahr ausgehen“, sagt Baldi voraus. Mehr ginge wohl nicht, weil die Unsicherheiten dadurch noch nicht beseitigt wären. Und das wäre immer noch Gift für Investitionen und Konsum. In den meisten
Ländern des Euroraums dürfte die Konjunktur zumindest ins Stottern geraten. Zudem könnte China wegen der Folgen der Pandemie und wegen der Sorge vor Kreditausfällen bei den einheimischen Banken als Wachstumsmotor auch für deutsche Exporte ausfallen.
Jüngst haben vom LeibnizZentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW, Mannheim) befragte Ökonomen für das zweite, dritte und vierte Quartal im Mittel ein Wirtschaftswachstum von je 0,2 Prozent vorausgesagt. Mit 30 Prozent Wahrscheinlichkeit rechneten sie aber damit, dass das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal gesunken sein dürfte. Das Risiko, dass die deutsche Wirtschaft im aktuellen SommerQuartal schrumpft, taxieren die Experten demnach sogar auf 50 Prozent. Aber: „Auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in Deutschland klar zunimmt, ist diese zumindest aktuell nicht das Hauptszenario, mit dem die Befragten rechnen“, sagte ZEWWissenschaftler Thibault Cézanne. Beim ZEW reicht es 2022 noch für ein moderates Wachstum von 1,5 Prozent, für das kommende Jahr rechnen die Fachleute ebenfalls nur mit 1,5 Prozent, für 2024 mit 2,0 Prozent. Aber die Wirtschaft wächst. Gebremste Zuversicht also.
Pessimistisches Szenario Stoppt er die Gaszufuhr oder stoppt er sie nicht? Das ist eine Frage, die die Deutschen nachhaltig beschäftigt. Russlands Präsident Wladimir Putin gefällt sich darin, die Europäer auf diese Weise zu verunsichern. Die EU und Deutschland müssen sich deshalb auf den schlimmsten Fall einstellen: Russland stoppt die Gaslieferungen über Nord Stream 1 komplett und ersetzt sie auch nicht durch andere Quellen. Kämen dann ein kalter Winter hinzu und mögliche Verzögerungen bei der Fertigstellung der beiden FlüssiggasTerminals in der Nordsee, wäre die Basis für das pessimistische Szenarion bereitet.
Nach dem GasmangelSzenario der Bundesnetzagentur von Ende Juni fehlen bei einem Lieferstopp in Deutschland zehn Prozent des Jahresverbrauchs. Viele Ökonomen schätzen, dass Deutschland in diesem Fall in eine erneute Rezession fällt. „Ein Minus in diesem Jahr ist nicht auszuschließen, wenn die Russen weiterhin wenig bis nichts liefern“, sagt RWIExperte Torsten Schmidt. Und danach? Entscheidend dürfte sein, ob es Deutschland noch im Winter gelingt, die Ersatzterminals für Flüssiggas zum Laufen zu bringen. Doch selbst im schlimmsten Fall rechnet Schmidt nicht mit einem erneuten Einbruch 2023: „Eine zweijährige Rezession ist eher unwahrscheinlich.“
Allerdings dürfte es einige Turbulenzen in wichtigen Industriebranchen geben. Chemie und Stahl können weniger liefern, selbst wenn sie bei den GasZuteilungen der Netzagentur bevorzugt werden. Das hätte Auswirkungen auf den Maschinenbau, mit mehr als einer Million Beschäftigten eine der zentralen Wirtschaftssektoren Deutschlands. „Wenn die Herstellung in vorgelagerten Wertschöpfungsstufen wie Stahl und Kunststoff gestört ist, macht sich das auch im Maschinenbau stark bemerkbar“, vermutet VDMAChefvolkswirt Ralph Wiechers. Die Zulieferseite sei die Achillesferse der Branche, Wertschöpfungsketten könnten zusammenbrechen.
Auch ZVEIExperte Andreas Gontermann ist in diesem Fall äußerst pessimistisch: „Die Rückgänge könnten weitaus größer ausfallen, als in einigen beschwichtigenden Studien berechnet wurde.“Der Chefvolkswirt geht sogar noch weiter: „Von Spillover und KaskadenEffekten könnten auch die weltweiten Kapital und Währungsmärkte massiv betroffen werden.“Turbulenzen auf diesen Märkten dürften schließlich Branchen in Mitleidenschaft ziehen, die nicht sonderlich energieabhängig sind.
Im weiteren Verlauf des Jahres 2023 hätten die deutsche und die europäische Wirtschaft große Mühe, wieder Tritt zu fassen. Denn die hohen Inflationsraten würden die Europäische Zentralbank zwingen, die Zinsen deutlich zu erhöhen, was Investitionen und Wachstum bremsen würde. Das RWIInstitut schreibt in seiner Mittelfristprognose, dass auch „in den darauffolgenden Jahren das Expansionstempo der deutschen Wirtschaft deutlich niedriger ausfallen dürfte“. Neben den steigenden Realzinsen wird auch eine Verschlechterung der Produktionsbedingungen als Grund genannt – etwa als Folge der dauerhaft höheren Energiepreise und der wegen des Klimawandels erforderlichen Verminderung des KohlendioxidAusstoßes.
Zwar passen sich die Unternehmen schon jetzt an das ungünstigste Szenario an, haben die energieintensiven Hersteller schon bis Mitte des Jahres rund zehn Prozent ihres Gasverbrauchs eingespart, indem sie verstärkt Öl und Kohle einsetzen oder den Übergang zum klimaneutralen Wasserstoff beschleunigen. Das erfordert aber gewaltige Investitionen, die beim schwierigen Umfeld wirtschaftlich kaum zu stemmen sind. Schon jetzt ist absehbar, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie leidet und sie einen Teil ihrer beherrschenden Stellung an den internationalen Märkten verlieren könnte. Im pessimistischen Fall wird der Absturz deutlich spürbar sein, die Löhne und Gewinne werden zurückgehen, es wird weniger Geld in Forschung und Innovationen fließen. Die Wachstumsraten werden einige Jahre lang deutlich niedriger ausfallen.
Für das kommende Jahr jedenfalls rechnet DIWExperte Baldi in diesem Szenario mit einem deutlichen Rückgang der Wirtschaftsleistung. Eine Rezession in Deutschland und in der Eurozone würde nach seiner Einschätzung die deutsche Wirtschaft je nach Stärke der Verwerfungen um ein bis vier Prozent schrumpfen lassen. Es könnte noch größere Probleme für die Sorgenländer Europas geben – allen voran für Italien, das in eine neue Schuldenkrise stürzen könnte. Und ein weiterer Verfall des Euro könnte weitere Investoren aus Europa vertreiben.
„Eine zweijährige Rezession ist eher unwahrscheinlich“Torsten Schmidt Ökonom am RWI-Leibniz-Institut