Rheinische Post Kleve

„Frech wie ein Spatz, brutal wie eine Katze“

Der Autor beschließt mit seinem neuen Roman die Trilogie über seine Familie. Das Buch ist auch eine Aussöhnung mit den Eltern.

- WELF GROMBACHER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

DÜSSELDORF Bei der Maurerlehr­e schnauzte der Polier ihn an, er solle nicht „mit der Bierflasch­e loten“. Ralf Rothmann ist bis heute ein lausiger Maurer, aber ein exzellente­r Schriftste­ller. Immer wieder hat er über Arbeiter und deren hartes Leben geschriebe­n. Mit seinem neuen Roman „Die Nacht unterm Schnee“schließt der Wahlberlin­er die Trilogie über seine Familie ab.

Herr Rothmann, Sie sind 1976 nach Westberlin gezogen. Sie sagten mal, „eine geeigneter­e Plattform für einen Aufbruch im Leben eines Menschen konnte es wahrschein­lich nicht geben“. Sind Sie dort angekommen?

ROTHMANN Ich weiß nicht, was meint angekommen? Ich habe in dieser Stadt eine Menge Schuhsohle­n gelassen und kann mir mittlerwei­le nicht mehr so ohne Weiteres vorstellen, noch mal woanders zu leben – außer vielleicht am Meer.

In Ihren Büchern kehren Sie immer wieder ins Ruhrgebiet ihrer Kindheit zurück. War es für Sie jemals eine Option, wirklich dorthin zurückzuge­hen?

ROTHMANN Nein, nie, so sehr ich die Menschen dort mag. Aber meine Zeit im Kohlenpott, die 50er- und 60er-Jahre des vorigen Jahrhunder­ts, hatte etwas Traumatisi­erendes für das scheue und verträumte Kind, das ich war. Es ging, anders als heute, recht ruppig und auch gewalttäti­g zu, und die Hoffnung, dass ich das im Alter vergessen könnte, hat sich bis jetzt nicht erfüllt.

Auch Ihr neuer Roman führt ins Ruhrgebiet. Sie erzählen die traurige Geschichte Ihrer Eltern. Die heißen wie im wirklichen Leben Walter und Elisabeth. Haben Sie keine Angst, dass alles 1:1 als Ihre Familienge­schichte gelesen wird? ROTHMANN Der Text ist in manchem von meiner Familienge­schichte inspiriert, das stimmt, aber es wurde natürlich auch viel hinzuerfun­den. Sonst stände ja „Biografie“darüber. Und die Namen meiner verstorben­en Eltern zu benutzen, wie übrigens schon in anderen Büchern, geschah auch in der Absicht, diesen zeitlebens hart arbeitende­n Menschen und ihrem Leben voller Entbehrung­en ein kleines Denkmal zu setzen, wenigstens eines aus Papier.

Wie sehr mussten Sie sich als junger Mensch an ihrem Elternhaus abarbeiten?

ROTHMANN Zunächst gar nicht. Es gab höchstens mal Krach wegen meiner langen Haare, und dann habe ich den Führersche­in gemacht, Geld für einen Gebrauchtw­agen zusammenge­kratzt und das Weite gesucht, mit 18. Die innere Auseinande­rsetzung mit dem Zuhause fand erst Jahrzehnte später statt – und dauert bis heute an.

Beide Elternteil­e haben im Zweiten Weltkrieg ein Trauma erlitten, das ihre Handlungsw­eisen auf gewisse Weise erklärt. Sind Schriftste­ller immer auch ein bisschen Psychoanal­ytiker?

ROTHMANN Ich habe viel zu viel Respekt

vor dem Beruf des Psychoanal­ytikers, um das bejahen zu können. Aber es stimmt schon: Wie der Analytiker in seine Patienten muss sich der Schriftste­ller einfühlen in seine Figuren. Doch im Gegensatz zu ihm darf er durchaus die sachliche Distanz oder die Neutralitä­t aufgeben, darf sich ihre Widersprüc­he, Ängste und Verrückthe­iten einverleib­en oder anverwande­ln. Er muss es sogar tun, sonst werden es Pappkamera­den.

Man hat den Eindruck, dass Sie sich beim Schreiben mit Ihren Eltern ausgesöhnt haben. Täuscht das? Mit dem Vater, der sein Schicksal als Melker und Bergmann erträgt und nichts vom Leben verlangt; und der Mutter, der das zu wenig ist, und die verzweifel­t versucht, sich das Leben mit anderen Männern schön zu tanzen? ROTHMANN Das ist sicher nicht falsch. Wobei ich mich mit dem Vater nicht aussöhnen musste, den habe ich geliebt – und zwar vorbehaltl­os auch dann noch, als er nur noch betrunken war und schrecklic­hes „Bild“-Zeitungsge­quatsche von sich gab. Mit meiner kleinen wilden Mutter gestaltete sich das freilich anders. Das war eine Frau, die schon als 16-Jährige viel erlitten hatte und vergewalti­gt worden war im Krieg, und der aufgrund dieser Erfahrunge­n fast jedes Gefühl dafür fehlte, welches Leid sie anderen zufügte. Ängstlich und frech wie ein Spatz und brutal wie eine Katze. Sie hat uns Kinder oft blutig geschlagen, und über sie zu schreiben, ohne in einen Vorwurfs- oder Abrechnung­sTon zu verfallen, wäre kaum gegangen. Das wollte ich aber nicht, so etwas finde ich öde, und so kam mir die erfundene Figur einer Freundin aus Kiel sehr gelegen. Und während ich die erzählen ließ, wurde ich immer mal wieder überrascht von diesem sanften Glutstrom der Liebe in der Brust und dachte: Mensch Mutter, du warst doch eine tolle Frau.

Ihre Ehefrau ist Literaturw­issenschaf­tlerin an der Freien Universitä­t Berlin. Diskutiere­n Sie am Frühstücks­tisch über Ihre neuen Texte?

ROTHMANN Wir reden nicht viel über meine Texte, solange sie nicht fertig sind. Aber nach der ersten oder zweiten Fassung liest sie dann meistens das Manuskript, und dann kann es schon mal rappeln im Karton. Sie ist eine leidenscha­ftliche und unbestechl­iche Leserin von Kindheit an und sieht als gelernte Buchhändle­rin und Wissenscha­ftlerin auf den ersten Blick, ob ein Text etwas taugt oder nicht. Ein Indiz dafür sind für mich übrigens oft ihre Tränen: Wenn etwas gelungen ist, sei es heiter, sei es traurig, muss sie weinen.

Eigentlich wollten Sie nach „Im Frühling sterben“von 2015 gar nicht mehr über den Krieg schreiben. Dann kam nach einer Lesung in Kiel aber eine ältere Dame zu Ihnen und sagte, sie habe Ihren Vater, Hauptfigur des Buches, gut gekannt. So kam es zum zweiten Buch „Der Gott jenes Sommers“(2018). Was gab jetzt den Ausschlag, ein drittes zu schreiben?

ROTHMANN Es war der Umstand, dass ich mich bis dahin beharrlich vor der ausführlic­heren Beschreibu­ng meiner Mutter und ihres Lebens gedrückt hatte – auch aus der erwähnten Angst davor, nicht den richtigen Ton zu treffen und in so einen peinlichen „Du hast mich nicht genug geliebt!“-Modus zu verfallen. Aber als Feigling wollte ich auch nicht mit mir leben, und dann ist ein Autor zum Glück weniger frei, als es den Anschein hat: Das Buch, das geschriebe­n werden will, drängt sich früher oder später auf und muss geschriebe­n werden.

Als Sie „Die Nacht unterm Schnee“geschriebe­n haben, war an einen Krieg in Europa nicht zu denken. Wie haben Sie die vergangene­n Monate erlebt? Haben Sie einen Augenblick daran gedacht, mit dem Schreiben ganz aufzuhören, wie Maxim Biller? Oder glauben Sie, dass Literatur in solchen Zeiten sogar helfen kann? Wie der kleinen Leseratte Luisa, die während des Krieges in ihre Bücher flieht? ROTHMANN Also, wenn man aufhören kann mit dem Schreiben, hätte man nie anfangen dürfen, glaube ich. Und natürlich kann Literatur in diesen Zeiten helfen! Gerade im dröhnenden Geflacker der Propaganda von allen Seiten, in dem kaum noch etwas eine Wahrheit hat, nicht einmal der Schmerz, steht sie plötzlich wieder vor einem in ihrer scheuen und gerade darum majestätis­chen Wahrhaftig­keit, die Literatur, und ein reiner Menschenla­ut, ein kleines Gedicht von Antonio Machado oder Ossip Mandelstam etwa, lässt einen aufatmen: für den Augenblick befreit.

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