Im Dienste des Volkes
Ihre Herrschaft umspannt eine Zeit, an die sich die meisten ihrer Untertanen gar nicht erinnern können. Abschied von einer einzigartigen Frau.
LONDON Sie war fraglos die berühmteste Frau auf dem Planeten. Nie hat es einen Monarchen im britischen Königreich gegeben, der älter wurde oder länger regiert hätte. Ihre Herrschaft umspannt eine Zeit, an die sich die meisten ihrer Untertanen gar nicht erinnern können. Als Elizabeth Alexandra Mary Windsor am 21. April 1926 geboren wurde, umfasste das britische Empire noch mehr als ein Fünftel des Globus. Wenn die Queen neun Dekaden später zurückblickte, mochte sie vielleicht bedauern, dass die Krone ein Weltreich verloren hat. Aber auf die Bilanz ihrer 70 Jahre auf dem Thron konnte sie stolz sein.
Dabei war sie als Tochter des zweitältesten Königssohnes Albert und der schottischen Gräfin Elizabeth Bowes-Lyon gar nicht für den Thron bestimmt. Sie wuchs in äußerst behüteten Verhältnissen auf – kaum Kontakt zu Gleichaltrigen, keine Freundschaften mit gemeinen, also nicht-aristokratischen Kindern, stattdessen Privatunterricht zu Hause durch eine Gouvernante.
Aus ihren Kinderjahren ist überliefert, dass sie am liebsten „einen Farmer heiraten und viele Kühe, Pferde und Kinder haben“wollte. Daraus konnte spätestens dann nichts mehr werden, als die Abdankung von Edward VIII. im Dezember 1936 ihren Vater zum König beförderte. Im Alter von zehn Jahren war Elizabeth plötzlich „mutmaßliche Thronerbin“. Der Drill für die zukünftige Monarchin begann.
Elizabeth hatte Verfassungsgeschichte und Recht zu studieren, ihren Neigungen fürs Theater, Schwimmen und Reiten durfte sie in ihrer Freizeit nachkommen. Sie musste sich damit abfinden, auf lange von ihren Eltern getrennt zu sein, die auf Auslandsreisen entschwanden – ein Muster, das sich bei ihren eigenen Kindern wiederholen sollte. Und als Ehemann kam natürlich kein Landwirt mehr in Frage. Elizabeth heiratete 1947 Prinz Philip Mountbatten, den Sohn des entthronten Königs von Griechenland und UrUr-Enkel von Queen Victoria.
Am 21. Geburtstag machte sie in ihrer ersten großen öffentlichen Ansprache ein Gelöbnis: „Ich erkläre vor euch“, versprach sie ihren Zuhörern, „dass mein ganzes Leben, sei es kurz oder lang, dem Dienst an euch und dem Dienst an der großen imperialen Familie gewidmet sein wird.“Gemeint damit war das Commonwealth, der lose Staatenverbund ehemaliger britischer Kolonien. Was diese Verpflichtung bedeutete, haben viele andere Royals nie begriffen: Es war das Versprechen von Selbstlosigkeit, Pflichtbewusstsein und Disziplin. Es bedeutete den öffentlichen Verzicht auf Selbstverwirklichung. Der Anspruch auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit wurde ersetzt durch das preußisch anmutende Ideal, die erste Dienerin ihres Königreichs sein zu wollen. Kein anderes Mitglied ihrer Familie ist so weit in dieser Selbstverneinung gegangen: Prinz Philip nicht, der immer mal wieder durch geschmacklose Scherze aus der Rolle fiel, die
Kinder nicht, die ihre Ehen in den Sand setzten, und die Schwiegertöchter Fergie und Diana mit ihren frivolen Eskapaden schon gar nicht.
Über den Moment ihrer Thronbesteigung gibt es eine Anekdote: Die 25-jährige Prinzessin Elizabeth befand sich auf einem Staatsbesuch in Afrika und besuchte das Hotel „Treetops“in Kenia, das aus einem Baumhaus bestand, das an einer Wasserstelle im Aberdare-Nationalpark lag. Sie soll dort, so hat ein Höfling bezeugt, in dem Moment als ihr Vater starb, ein Rhinozeros beobachtet haben und ein Adler sei über ihren Kopf gezogen. „Ein Mädchen kletterte den Baum hinauf als Prinzessin“, schrieb der Schriftsteller und Naturschützer Jim Corbett ins Gästebuch des Hotels, „und stieg als Königin herab.“Denn zum Zeitpunkt des Ablebens von George VI. wurde seine Tochter zur Queen Elizabeth II. Doch mit der Krönung sollte es noch mehr als ein Jahr dauern.
Elizabeth besieg den Thron 1952 und wurde 16 Monate später in der Westminster Abbey gekrönt. Die Begeisterung für die neue junge Queen war grenzenlos. Das farbenprächtige Spektakel der Krönung goss Balsam auf die Seele des Volkes. Man spürte: Hier war der Aufbruch.
Ihre Ausdauer war der größte Trumpf für die Windsors. Immerhin
ist Monarchie ohne Kontinuität nicht denkbar – und was verkörperte Elizabeth II. nicht deutlicher als Kontinuität, die Verweigerung des Wandels, die bei ihr bis zur Selbstverleugnung geht? Bis zum Tod der Queen Mum schätzten die Briten die Langlebigkeit der Königinmutter als Vitalitätsbeweis für die Monarchie. Danach hatte die Queen diese Rolle der „eisernen Oma der Nation“übernommen und man verehrte sie, weil sie den Job schon so lange und immer in dem gleichen würdigen und liebenswürdigen Stil gemacht hat. Dazu kam ihre Rolle als moralische Instanz in einer Zeit des umgreifenden Wertewandels. „Die Lehren Christi“, bekannte sie, „und meine eigene persönliche Verantwortung vor Gott geben mir den Rahmen, in dem ich mein Leben zu führen versuche.“Das mag vielleicht nicht auf der Höhe der philosophischen Postmoderne sein, beeindruckt aber dennoch durch seine stoische Charakterstärke. Den Untertanen zeigte es eine klare moralische Perspektive.
So gut die Monarchie aufgestellt ist, so hatte die Regentschaft der Queen doch auch ihre kritischen Momente. Die 90er-Jahre bedeuteten ein einziges Desaster für die Popularität der Institution. Die Skandale um Prinzessin Diana, um Fergie und um Sophie, die Gräfin von Wessex, hatten zu einer immer kritischeren Einstellung
der Briten gegenüber der „Firma“geführt. Richtig kritisch wurde es 1997 mit dem Tod von Prinzessin Diana. Während das ganze Land in einen kollektiven Trauerrausch verfiel, weigerte sich der BuckinghamPalast, die königliche Standarte auf Halbmast zu senken. Die Queen, empörten sich darauf die Massenblätter, teile nicht den Schmerz der Öffentlichkeit. Von königlicher Kälte und Unnahbarkeit war die Rede.
Man hat die Krise überstanden, und die Queen erfreute sich schnell wieder beispielloser Popularität. Aber kurz vor ihrem Platin-Jubiläum, den Feiern zu ihrer 70-jährigen Herrschaft in diesem Jahr, zog Unheil auf. Ihr Lieblingssohn Prinz Andrew musste sich einem Zivilprozess in New York stellen, in dem ihm sexueller Missbrauch einer Minderjährigen vorgeworfen wurde und den er nur mit einem teuren Vergleich abwehren konnte. Die Queen hatte hart durchgegriffen, die militärischen Titel Andrews kassiert und ihn ins interne Exil geschickt. Auch der sogenannte Megxit, der Abschied von Prinz Harry und seiner Frau Meghan von royalen Pflichten, hatte dem Ansehen des Hauses geschadet. Heute sind es vor allem William, die Nummer Drei der Thronfolge, und seine Familie, die als Garanten der Zukunft der Monarchie gelten.
Mit der Queen verlieren die Briten nicht nur eine geliebte Matriarchin. Sie hat 15 Premierminister in wöchentlichen Audienzen empfangen: Wer sonst hat so viel Zeitgeschichte persönlich erlebt wie Elizabeth II.? Sie ist so alt geworden, dass sich praktisch niemand im Königreich daran erinnern könnte, dass sie einmal nicht da war. Und eine Welt ohne sie können die Briten sich gar nicht vorstellen.