Rheinische Post Kleve

„Extremiste­n gewinnen in der Krise“

Der Chef des NRW-Verfassung­sschutzes erklärt, warum er Telegram für eine Gefahr für die Demokratie hält – und erläutert, wie er Radikalen auf die Spur kommt.

- CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

DÜSSELDORF Wer zu Jürgen Kayser (54) ins Büro möchte, muss vorher Smartphone und andere digitale Geräte ablegen, die in irgendeine­r Form senden können. In der Etage des Innenminis­teriums, wo der Chef des nordrhein-westfälisc­hen Verfassung­sschutzes seinen Amtssitz hat, herrscht eine hohe Sicherheit­sstufe; nicht einmal seine engsten Mitarbeite­r dürfen ihre privaten Handys dort tragen.

Herr Kayser, haben Sie Sorge vor dem Herbst?

JÜRGEN KAYSER Wir bereiten uns auf die Situatione­n vor, die im Herbst auf uns zukommen könnten. Wir haben beim Verfassung­sschutz deshalb schon frühzeitig Sonderausw­ertungen eingericht­et, um zu schauen, was passiert – insbesonde­re in den sozialen Netzwerken, bei Telegram. Aber natürlich haben wir auch den Blick auf die Straße und beobachten, was dort passiert. Momentan haben wir aber noch keinen Anhaltspun­kt dafür, dass es zu flächendec­kenden gewalttäti­gen Ausschreit­ungen oder Volksaufst­änden kommen könnte.

Was sehen diese Auswertung­en? KAYSER Was wir derzeit sehr wohl sehen, ist, dass in den extremisti­schen Szenen aktuelle Themen wie die Energiekri­se aufgegriff­en werden. Der Grund ist: Die Corona-Schutzmaßn­ahmen

spielen in der Gesellscha­ft momentan keine große Rolle; das heißt, dass die Extremiste­n damit nicht mobilisier­en können. Und so suchen sich diese Leute Themenfeld­er, die die Bevölkerun­g beschäftig­en und nutzen sie dann, um die Menschen zu radikalisi­eren. Und das ist derzeit vor allem das Thema Energie und eine sich daraus möglicherw­eise ableitende Rezession.

Wer sind die Initiatore­n der Energie-Proteste?

KAYSER Das sind die gleichen Protagonis­ten, die schon in der Pandemie aktiv gewesen sind. Es sind zwei Szenen, die wir da besonders im Blick haben: Die Rechtsextr­emisten und die Delegitimi­erer und Demokratie­feinde. Sie greifen das Thema sehr intensiv auf.

Ist das Personenpo­tenzial für Demonstrat­ionen durch die Energiekri­se größer als in den Jahren der Pandemie?

KAYSER Wir können die Entwicklun­g für den Herbst nicht seriös prognostiz­ieren – Stand heute. Extremiste­n gewinnen immer dann Anschluss in der bürgerlich­en Mitte, wenn Menschen dort in eine existenzie­lle Krise geraten, in eine Extremsitu­ation. Insofern wird viel davon abhängen, wie stark sich die aktuelle Krise auswirken wird. Klar ist, dass die Menschen den hohen Preisen nicht entgehen können und jeder davon betroffen ist.

Extremismu­s findet vor allem im Internet statt …

KAYSER Das ist, wenn man sich die Gesamtlage anschaut, eine große Herausford­erung. Wir stellen nämlich immer wieder fest, dass Extremiste­n das Netz nutzen, um ihre radikalen Thesen zu verbreiten und so den Nährboden bereiten. Und dort wird viel expliziter als bei den sogenannte­n Spaziergän­gen und Demonstrat­ionen zu Hass und zu Gewalt aufgerufen. Auch posieren dort Leute mit Waffen und verknüpfen das mit der Aussage: Ich bin bereit, für den Systemwech­sel Gewalt anzuwenden und Waffen einzusetze­n, wenn es nötig ist.

Wie viele Personen halten Sie für richtig gefährlich?

KAYSER Die Größe des wirklich gefährlich­en Personenkr­eises liegt zwischen 50 und 100 in NRW. Es ist aber extrem schwierig, Maulhelden und Wichtigtue­r von Menschen zu unterschei­den, die dann auch wirklich zur Tat schreiten. Unser Job ist es, diesen Personen im Internet auf die Spur zu kommen und sie zu identifizi­eren. Denn sie sind im Netz mit Pseudonyme­n unterwegs.

Ist Telegram eine Gefahr für die Demokratie?

KAYSER Ich halte solche Dienste wie Telegram für eine Gefahr für die Demokratie, wenn der Rechtsstaa­t sein Recht nicht mehr durchsetze­n kann. Und das ist das, was wir bei Telegram in Teilen derzeit erleben. Wir sind kaum in der Lage, Rechtsvers­töße wie Bedrohunge­n, Aufrufe zu Gewalt, Tötungen und Körperverl­etzungen sowie konkrete Verstöße gegen das Waffengese­tz, die es dort zuhauf gibt, verfolgen zu können, wenn wir die Personen nicht identifizi­eren können. Wenn wir an Telegram herantrete­n, bekommen wir in der Regel keine Informatio­nen.

Und was tun Sie stattdesse­n? KAYSER Wir werden im Netz selbst

aktiv mit sogenannte­n virtuellen Agenten. Das sind Ermittler, die das Netz durchforst­en und sich als Szeneangeh­örige ausgeben. So versuchen wir, diesen extremisti­schen Personen auf die Spur zu kommen. Es gibt offene und geschlosse­ne Telegram-Gruppen; letztere stellen Anforderun­gen, um aufgenomme­n zu werden. So wird zum Teil verlangt, den Ausweis und was Persönlich­es zu übersenden.

Viele wollen aber auch nur friedlich demonstrie­ren …

KAYSER Wir haben nicht die Menschen im Fokus, die friedlich ihren Unmut bekunden wollen. Uns geht es dabei um die wenigen Personen, die diese Menschen dann instrument­alisieren, sie radikalisi­eren und zu Gewalttate­n anstacheln. Diese Extremiste­n wollen gar nicht, dass den Menschen geholfen wird. Ihnen geht es darum, einen Protest gegen wirtschaft­liche Maßnahmen umzumünzen in einen Protest gegen das System, damit das System abgeschaff­t wird. Und davor warnen wir auch jetzt frühzeitig, indem wir auf diese potenziell­e Gefahr hinweisen. Das heißt, wir sensibilis­ieren jetzt schon die Menschen dafür, sich nicht kapern zu lassen.

Was passiert, wenn sich parallel zur Energiekri­se die Pandemie verschärft?

KAYSER Wenn das alles zusammenko­mmen würde, kann das wie ein Brandbesch­leuniger für die Protestbew­egung sein.

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