„Extremisten gewinnen in der Krise“
Der Chef des NRW-Verfassungsschutzes erklärt, warum er Telegram für eine Gefahr für die Demokratie hält – und erläutert, wie er Radikalen auf die Spur kommt.
DÜSSELDORF Wer zu Jürgen Kayser (54) ins Büro möchte, muss vorher Smartphone und andere digitale Geräte ablegen, die in irgendeiner Form senden können. In der Etage des Innenministeriums, wo der Chef des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes seinen Amtssitz hat, herrscht eine hohe Sicherheitsstufe; nicht einmal seine engsten Mitarbeiter dürfen ihre privaten Handys dort tragen.
Herr Kayser, haben Sie Sorge vor dem Herbst?
JÜRGEN KAYSER Wir bereiten uns auf die Situationen vor, die im Herbst auf uns zukommen könnten. Wir haben beim Verfassungsschutz deshalb schon frühzeitig Sonderauswertungen eingerichtet, um zu schauen, was passiert – insbesondere in den sozialen Netzwerken, bei Telegram. Aber natürlich haben wir auch den Blick auf die Straße und beobachten, was dort passiert. Momentan haben wir aber noch keinen Anhaltspunkt dafür, dass es zu flächendeckenden gewalttätigen Ausschreitungen oder Volksaufständen kommen könnte.
Was sehen diese Auswertungen? KAYSER Was wir derzeit sehr wohl sehen, ist, dass in den extremistischen Szenen aktuelle Themen wie die Energiekrise aufgegriffen werden. Der Grund ist: Die Corona-Schutzmaßnahmen
spielen in der Gesellschaft momentan keine große Rolle; das heißt, dass die Extremisten damit nicht mobilisieren können. Und so suchen sich diese Leute Themenfelder, die die Bevölkerung beschäftigen und nutzen sie dann, um die Menschen zu radikalisieren. Und das ist derzeit vor allem das Thema Energie und eine sich daraus möglicherweise ableitende Rezession.
Wer sind die Initiatoren der Energie-Proteste?
KAYSER Das sind die gleichen Protagonisten, die schon in der Pandemie aktiv gewesen sind. Es sind zwei Szenen, die wir da besonders im Blick haben: Die Rechtsextremisten und die Delegitimierer und Demokratiefeinde. Sie greifen das Thema sehr intensiv auf.
Ist das Personenpotenzial für Demonstrationen durch die Energiekrise größer als in den Jahren der Pandemie?
KAYSER Wir können die Entwicklung für den Herbst nicht seriös prognostizieren – Stand heute. Extremisten gewinnen immer dann Anschluss in der bürgerlichen Mitte, wenn Menschen dort in eine existenzielle Krise geraten, in eine Extremsituation. Insofern wird viel davon abhängen, wie stark sich die aktuelle Krise auswirken wird. Klar ist, dass die Menschen den hohen Preisen nicht entgehen können und jeder davon betroffen ist.
Extremismus findet vor allem im Internet statt …
KAYSER Das ist, wenn man sich die Gesamtlage anschaut, eine große Herausforderung. Wir stellen nämlich immer wieder fest, dass Extremisten das Netz nutzen, um ihre radikalen Thesen zu verbreiten und so den Nährboden bereiten. Und dort wird viel expliziter als bei den sogenannten Spaziergängen und Demonstrationen zu Hass und zu Gewalt aufgerufen. Auch posieren dort Leute mit Waffen und verknüpfen das mit der Aussage: Ich bin bereit, für den Systemwechsel Gewalt anzuwenden und Waffen einzusetzen, wenn es nötig ist.
Wie viele Personen halten Sie für richtig gefährlich?
KAYSER Die Größe des wirklich gefährlichen Personenkreises liegt zwischen 50 und 100 in NRW. Es ist aber extrem schwierig, Maulhelden und Wichtigtuer von Menschen zu unterscheiden, die dann auch wirklich zur Tat schreiten. Unser Job ist es, diesen Personen im Internet auf die Spur zu kommen und sie zu identifizieren. Denn sie sind im Netz mit Pseudonymen unterwegs.
Ist Telegram eine Gefahr für die Demokratie?
KAYSER Ich halte solche Dienste wie Telegram für eine Gefahr für die Demokratie, wenn der Rechtsstaat sein Recht nicht mehr durchsetzen kann. Und das ist das, was wir bei Telegram in Teilen derzeit erleben. Wir sind kaum in der Lage, Rechtsverstöße wie Bedrohungen, Aufrufe zu Gewalt, Tötungen und Körperverletzungen sowie konkrete Verstöße gegen das Waffengesetz, die es dort zuhauf gibt, verfolgen zu können, wenn wir die Personen nicht identifizieren können. Wenn wir an Telegram herantreten, bekommen wir in der Regel keine Informationen.
Und was tun Sie stattdessen? KAYSER Wir werden im Netz selbst
aktiv mit sogenannten virtuellen Agenten. Das sind Ermittler, die das Netz durchforsten und sich als Szeneangehörige ausgeben. So versuchen wir, diesen extremistischen Personen auf die Spur zu kommen. Es gibt offene und geschlossene Telegram-Gruppen; letztere stellen Anforderungen, um aufgenommen zu werden. So wird zum Teil verlangt, den Ausweis und was Persönliches zu übersenden.
Viele wollen aber auch nur friedlich demonstrieren …
KAYSER Wir haben nicht die Menschen im Fokus, die friedlich ihren Unmut bekunden wollen. Uns geht es dabei um die wenigen Personen, die diese Menschen dann instrumentalisieren, sie radikalisieren und zu Gewalttaten anstacheln. Diese Extremisten wollen gar nicht, dass den Menschen geholfen wird. Ihnen geht es darum, einen Protest gegen wirtschaftliche Maßnahmen umzumünzen in einen Protest gegen das System, damit das System abgeschafft wird. Und davor warnen wir auch jetzt frühzeitig, indem wir auf diese potenzielle Gefahr hinweisen. Das heißt, wir sensibilisieren jetzt schon die Menschen dafür, sich nicht kapern zu lassen.
Was passiert, wenn sich parallel zur Energiekrise die Pandemie verschärft?
KAYSER Wenn das alles zusammenkommen würde, kann das wie ein Brandbeschleuniger für die Protestbewegung sein.