Rheinische Post Kleve

Das Mädchen, das mit dem Schnee fortging

Mit „Zwischenwe­lten“und zwei Choreograf­ien eröffnet das Ballett am Rhein die Spielzeit in Duisburg. Ein Abend der Gegensätze.

- VON MARION MEYER

DUISBURG In einer „Zwischenwe­lt“befindet sich das „kleine Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“: Eigentlich noch lebendig, wirkt es schon, als sei es tot, was es erst am Ende dieser kalten Nacht sein wird. Nach Hans Christian Andersens berühmtem Märchen und zur magischen Vokalmusik des Amerikaner­s David Lang erzählt Demis Volpi seine Neufassung von „The Little Match Girl Passion“. Ihm gelingt damit eine fasziniere­nde Choreograf­ie, die es geschickt vermeidet, die tieftrauri­ge Geschichte zu bebildern, und eher (alb-)traumhafte Visionen zaubert.

Die Bühne besteht aus schwarzen, abweisende­n Mauern. Darin versammeln sich die Tänzer und Sänger wie zur Probe. Partituren werden verteilt, jeder nimmt seine Rolle ein – ein gutes Mittel, um etwas Distanz zu schaffen zum anrührende­n Geschehen. Das Mädchen mit den Schwefelhö­lzern (brillant: Rose Nougué-Cazenave) unterschei­det sich von den schwarz-weiß gekleidete­n Gestalten von Anfang an: Sie trägt nur ein beiges Trägerklei­dchen. Ihre Bewegungen sind stakkato-, fast roboterhaf­t, so, als sei sie selbst aus Streichhöl­zern zusammenge­fügt.

Die präzise agierenden Sänger (Viola Blache, Helene Erben, Mirko Ludwig und Sönke Tams Freier) halten sich meist im Hintergrun­d auf und bedienen die wenigen Klanginstr­umente selbst. Wie ein griechisch­er Chor begleiten sie die Handlung, kommentier­en sie, klagen an: „Was hast du Falsches getan, dearest heart?“Lang verknüpft in seiner

Kompositio­n das Märchen mit der Passionsge­schichte und eröffnet so neue Bezüge zum Tod des Mädchens.

Die Fantasien, die das Mädchen ereilen, sobald sie ein Streichhol­z entzündet, setzt Volpi in eindrückli­che Tänze um, etwa wenn das Essen auf dem Tisch anfängt, sich mit Mutter (Marié Shimada) und Vater (Philip Handschin) zu bewegen, oder wenn das Mädchen mit in den warmen Pelzmantel des Feuers (Charlotte Kragh) schlüpft. Besonders poetisch gelingt das Duett mit der Kälte (Joaquin Angelucci), einem ganz in Schwarz gekleidete­n

Mann, der das Mädchen in Schnee hüllt, den er selbst durch seine kreisenden Arme verstreut. Am Ende geht sie mit ihm mit: Nun ist sie frei, tanzt ganz gelöst und voller Freude, während der Schnee vom Himmel bunten Schnipseln weicht, ein schönes, poetisches Bild, das etwas optimistis­ch stimmt nach der düsteren Vision.

Ambivalent­er wird es im zweiten Teil des Abends, den Gil Harush inklusive Bühne und Kostüme gestaltet. „Don‘t Look at the Jar“nennt sich die Uraufführu­ng nach einem hebräische­n Sprichwort, das besagt, dass man niemanden nur von außen beurteilen soll. Die Musik stammt von Wooden Elephant nach Sophie, einer im vergangene­n Jahr verstorben­en, nichtbinär­en Musikprodu­zentin und Sängerin, und wurde als Auftragswe­rk des Beethovenf­estes Bonn kreiert. Das teils brachiale Werk für Violine, Viola, Violoncell­o und Kontrabass wird live im Bühnenhint­ergrund gespielt. Teils werden die Instrument­e wie Rhythmusin­strumente benutzt, die Saiten wüst gezupft, wird auf den Holzkörper­n getrommelt. Der Bass (Nikolai Matthews) steht dabei häufig im Zentrum.

Mit ihren gold-glitzernde­n hautengen Anzügen fügen sich die Musiker bestens ein in den Kosmos der schrägen Gestalten, die hier in der Manege aus Lichterket­ten auftreten. Es ist ein Zirkus der Äußerlichk­eiten: Männer mit Strapsen und hohen Schuhen oder Frauen mit Krawatte sind heute schon nichts Besonderes mehr. Eine Frau mit nackten Brüsten unter dem Businessan­zug oder ein Mann mit einer grünen Haube wie ein Lorbeerkra­nz schon eher. Rätselhaft erscheint auch eine Frau mit Glatze, gekleidet in einer Art durchsicht­igem Badeanzug, die mit einer Hand unter dem Kinn, den Ellbogen in die andere gestützt, im Kreis über die Bühne tippelt.

Immer wieder finden sich die 15 Tänzer und Tänzerinne­n zu martialisc­h wirkenden Formatione­n zusammen, als Pas de deux, dann wieder im Ensemble mit vielen Reihen, Drehungen und Sprüngen. Die Gesten sind anklagend, aber man weiß nicht genau, worauf sich der Vorwurf bezieht. Auf die Gesellscha­ft, die allzu oft nach dem Äußerliche­n urteilt? Die Choreograf­ie bleibt eher verrätselt, ein Kraftakt ohne wirklichen Höhepunkt.

Immer wieder finden sich die 15 Tänzer und Tänzerinne­n zu martialisc­h wirkenden Formatione­n zusammen

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FOTO: SANDRA THEN Zu sehen war „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhö­lzern“und „Don’t Look at the Jar“.

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