„Die Menschen brauchen schnell Entlastungen“
Der NRW-Ministerpräsident ärgert sich über den Umgang des Bundes mit den Ländern, spricht über seine Bedingungen für einen Nachfolger des Neun-Euro-Tickets und neue Schutzschirme.
Herr Ministerpräsident, um das Entlastungspaket gab es reichlich Ärger. Wie ist es um das Vertrauen zwischen Bund und Ländern bestellt?
WÜST Dieses dritte Entlastungspaket muss jetzt endlich sitzen. Der Bund wäre gut beraten gewesen, das dritte Entlastungspaket im Vorfeld mit den Ländern abzustimmen. Man hat den Eindruck, dass die Ampel sehr mit sich selbst beschäftigt ist und intern ein Kompromisspaket zusammengeschustert hat. Darüber wird der Austausch mit den Ländern vernachlässigt, es wird ständig mit heißer Nadel gestrickt. Die Länder sind aber diejenigen, die die Maßnahmen am Ende umsetzen. Klar ist: NordrheinWestfalen wird seinen Beitrag zur Entlastung der Menschen leisten.
Halten Sie die Ampel im Bund für stabil? WÜST Manches, was man dort im Umgang miteinander sieht, lässt daran zweifeln. Aber wahrscheinlich schweißt der Wille zur Macht dann doch zusammen.
Was muss inhaltlich geändert werden, damit das Entlastungspaket sitzt?
WÜST Mit den enormen Steuergeldern, die da drinstecken sollen, muss man zielgenau entlasten, nicht nach dem Prinzip Gießkanne. Die Entlastung muss da ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Ich denke da beispielsweise an Familien. Warum eine Kindergelderhöhung nur für das erste und zweite Kind, nicht für das dritte und vierte? Gerade kinderreiche Familien brauchen in diesen Zeiten Unterstützung. Auf 300 Euro Energiepauschale können Gut- und Topverdiener verzichten, für andere wiederum ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass die Ampel ganze Bevölkerungsgruppen wie zuvor die Rentner und Studierende vergisst, war ein eklatanter Fehler – so etwas darf sich nicht wiederholen. Der Fokus muss außerdem auch auf dem Mittelstand liegen: Da stehen viele Arbeitsplätze im Risiko. Darauf gibt es in diesem Paket keine gute Antwort.
Was müsste ergänzt werden?
WÜST Wir müssen an der Ursache der Probleme ansetzen, nämlich bei den hohen Energiekosten. Bisher verfolgt der Bund die vage Idee, mit einer zusätzlichen Abgabe auf angebliche Zufallsgewinne weitere Mittel zu generieren, um damit dann wiederum den Energiepreis zu deckeln. Ob das jemals umgesetzt wird, steht in den Sternen. Die Minderung der kalten Progression, durch die die Menschen am Ende trotz Einkommenssteigerungen real weniger in der Tasche haben, weil Steuern und Inflation alles auffressen, halte ich für richtig. Aber das ist ja auch nichts, was sofort wirkt. Die Menschen müssen sich das normale Leben noch leisten können und brauchen dafür schnelle Entlastung. Inklusive Mobilität – auch darauf gibt es keine Antwort für das Pendlerland Nordrhein-Westfalen.
Die Aufteilung der Kosten zwischen Bund und Ländern ist ein Streitpunkt.
WÜST Bei der Verteilung der finanziellen Lasten zwischen Bund und Ländern müssen wir zu einer faireren Lösung kommen. Die bisher vorgesehene Kostenverteilung würde für alle Länder das Aufzehren der finanziellen Spielräume im nächsten Jahr bedeuten. Wir haben im Land Verantwortung. Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass die Kindergärten und Universitäten weiterlaufen. Dazu müssen wir aber auch noch die finanziellen Möglichkeiten haben. Neben dem Länderanteil am Entlastungspaket des Bundes ist auch eine Anschlussfinanzierung für die Flüchtlingsfinanzierung offen und die grundsätzliche Frage, ob der Bund nicht das Wohngeld komplett zu zahlen hat. Eine Nachfolgeregelung für das Neun-Euro-Ticket kann nur gefunden werden, wenn die seit Langem offene Frage der Finanzierung des regionalen Bahnverkehrs verlässlich geklärt ist. Die sogenannten Regionalisierungsmittel müssen erhöht werden – da sind sich alle Länder einig. Zudem muss die Krankenhausfinanzierung neu geregelt werden. Es gibt also genug Gesprächsstoff zwischen Bund und Ländern.
Wenn es vom Bund mehr Regionalisierungsmittel für den Schienenverkehr gibt, würden Sie dann der Nachfolge des NeunEuro-Tickets zustimmen?
WÜST Es ist Aufgabe des Bundes, den Schienenpersonennahverkehr zu finanzieren. Ein bundesweites Nahverkehrsticket ist ja grundsätzlich gut. Aber wir müssen erst mal eine höhere Verkehrsleistung und höhere Betriebskosten abdecken und dabei auch die steigenden Energiekosten berücksichtigen. Das muss man bezahlen, um den bisherigen Verkehr solide finanziert weiterfahren zu lassen, ohne Linien herauszunehmen oder Fahrpläne auszudünnen. Außerdem muss der Ausbau des ÖPNVs in ländlichen Regionen verlässlich finanziert sein. Wenn das passiert, dann sind wir natürlich gerne bereit, über eine Anschlusslösung für das Neun-Euro-Ticket zu reden.
Wie viel Verständnis haben Sie dafür, dass der Bundesfinanzminister an der Schuldenbremse für 2023 festhält?
WÜST Solide Haushalte vorzulegen, ist richtig. Bei steigenden Zinsen noch mehr Schulden zu machen, hieße, der jungen Generation immer mehr Lasten aufzubürden.
Deshalb ist das Grundgesetz an der Stelle zu Recht zurückhaltend. Klar ist aber auch: Erst die nächste Konjunkturprognose und die dann folgende Steuerschätzung werden zeigen, ob wir 2023 ohne neue Schulden auskommen, wie die Schuldenbremse das grundsätzlich verlangt, oder ob es eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gibt.
Sind Sie da im Dissens mit ihrer Stellvertreterin Mona Neubaur? Sie hat ja eine Lockerung der Schuldenbremse ins Gespräch gebracht.
WÜST Ministerin Neubaur und ich sind im Konsens darüber – so steht es eben auch im Grundgesetz, da gibt es keine zwei Meinungen – dass die Schuldenbremse eine Verschuldung nur in Ausnahmefällen erlaubt: bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und dadurch wegbrechende Steuereinnahmen zum Beispiel.
Wie wird NordrheinWestfalen dastehen nach diesem Winter – das Industrieland und die Gesellschaft?
WÜST Wir in NRW halten zusammen und werden auch diese Krise meistern. Es muss unser ganzes Streben sein, eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu vermeiden. Wesentliche Ursache der Inflation sind die Energiepreise. Wir müssen die Ursachen für die hohen Preise – die Energieknappheit – mit allen Mitteln bekämpfen: mit mehr Flexibilität bei den Kohlekraftwerken, mit einem Ausbau unserer Biomassekapazitäten, und ich hatte den Eindruck, dass auch der sogenannte Streckbetrieb – also die letzten Atomkraftwerke
länger laufen zu lassen – breite Akzeptanz in der Bevölkerung hatte. Auch bei uns in Nordrhein-Westfalen können wir die Stromproduktion ausweiten. Das Steinkohlekraftwerk Heyden ist zum Beispiel wieder am Netz. Das machen wir trotz unserer ambitionierten Klimaschutzziele mit – weil es in dieser Situation notwendig ist, um eine Notlage zu verhindern.
Sie wollen einen echten Preisdeckel für Strom?
WÜST Die Strom- und Gaspreise sollten wir senken, indem man erst mal die Stromkapazitäten ausweitet und alle Steuern und Abgaben reduziert. Wir sind in einer außergewöhnlichen Situation, da ist auch ein Preisdeckel denkbar. Es darf keine Denkverbote geben. Wenn Unternehmen derart schlagartig in eine Schieflage geraten, muss der Staat mit Hilfsmaßnahmen unterstützen.
Was muss getan werden, um eine Insolvenzwelle zu verhindern?
WÜST Einige Maßnahmen kennen wir aus der Pandemie. Wir sollten die Insolvenzantragspflicht erneut aussetzen und auch wieder finanzielle Schutzschirme vorbereiten. Solche Schritte sollten nicht leichtfertig erfolgen, aber wir können in dieser Situation überhaupt nichts ausschließen. Aber noch wichtiger ist: Wir müssen an die Ursachen ran, und das sind die Energiepreise.
Muss für die Stadtwerke ein Schutzschirm
des Bundes kommen?
WÜST Das haben wir schon vor geraumer
Zeit an den Bund herangetragen. Wir werden das besprechen. Die Kommunen haben zu Recht Erwartungen an Berlin, die werden wir Länder auch mitnehmen.
Der Betriebsrat hat die Verstaatlichung der Stahl-Sparte von Thyssenkrupp gefordert. Wie stehen Sie dazu?
WÜST Wir sind bereit, mehrere Hundert Millionen Euro Fördermittel in die Transformation der Stahlerzeugung bei Thyssenkrupp zu investieren. Das tun wir, weil die Stahlerzeugung am Anfang langer Wertschöpfungsketten steht, die weit in den Mittelstand überall im Land hineinreichen. Es geht darum, die Kompetenzen zur Herstellung grünen Stahls im Land zu haben und zigtausend gute Arbeitsplätze zukunftsfest zu machen.
Für die Transformation der Stahlindustrie braucht es grünen Wasserstoff. Wie sorgen Sie für eine bessere Infrastruktur?
WÜST Wir machen seit Wochen Druck, dass wir die Pipelinekapazitäten nach Belgien erhöhen, in denen zunächst Flüssiggas nach Nordrhein-Westfalen geliefert wird und später Wasserstoff. Wir hoffen, dass der Bund Belgien gegenüber die notwendigen Zusagen gibt, dass der Ausbau erfolgen kann.
Sie wollen den Ausbau erneuerbarer Energien massiv vorantreiben. Ist das Ziel – 1000 neue Windräder in fünf Jahren – noch realistisch?
WÜST Wir verfolgen unser ambitioniertes Ziel weiter, gar keine Frage. Das ist eines der wesentlichen Themen für das Industrieland Nordrhein-Westfalen und eines der großen Vorhaben dieser Landesregierung. Wir haben die Eckpunkte für die Änderung des Landesentwicklungsplans schon im August im Kabinett beschlossen. Wir werden neue Konzentrationszonen auch an Stellen schaffen, an denen das bisher zum Beispiel der Artenschutz verhindert hat. Wir werden die nötigen Flächen ausweisen.
Werden wir in NRW doch auch wieder über Fracking nachdenken?
WÜST Fracking ist in einer Region, in der wir viel von unserem Trinkwasser aus oberflächennahen Wasserschichten holen, die beim Fracking durchstoßen werden müssten, nicht verantwortbar.
DAS GESPRÄCH FÜHRTEN MORITZ DÖBLER, MAXIMILIAN PLÜCK UND SINA ZEHRFELD.