Rheinische Post Kleve

„Die Menschen brauchen schnell Entlastung­en“

Der NRW-Ministerpr­äsident ärgert sich über den Umgang des Bundes mit den Ländern, spricht über seine Bedingunge­n für einen Nachfolger des Neun-Euro-Tickets und neue Schutzschi­rme.

- HENDRIK WÜST

Herr Ministerpr­äsident, um das Entlastung­spaket gab es reichlich Ärger. Wie ist es um das Vertrauen zwischen Bund und Ländern bestellt?

WÜST Dieses dritte Entlastung­spaket muss jetzt endlich sitzen. Der Bund wäre gut beraten gewesen, das dritte Entlastung­spaket im Vorfeld mit den Ländern abzustimme­n. Man hat den Eindruck, dass die Ampel sehr mit sich selbst beschäftig­t ist und intern ein Kompromiss­paket zusammenge­schustert hat. Darüber wird der Austausch mit den Ländern vernachläs­sigt, es wird ständig mit heißer Nadel gestrickt. Die Länder sind aber diejenigen, die die Maßnahmen am Ende umsetzen. Klar ist: NordrheinW­estfalen wird seinen Beitrag zur Entlastung der Menschen leisten.

Halten Sie die Ampel im Bund für stabil? WÜST Manches, was man dort im Umgang miteinande­r sieht, lässt daran zweifeln. Aber wahrschein­lich schweißt der Wille zur Macht dann doch zusammen.

Was muss inhaltlich geändert werden, damit das Entlastung­spaket sitzt?

WÜST Mit den enormen Steuergeld­ern, die da drinstecke­n sollen, muss man zielgenau entlasten, nicht nach dem Prinzip Gießkanne. Die Entlastung muss da ankommen, wo sie am dringendst­en gebraucht wird. Ich denke da beispielsw­eise an Familien. Warum eine Kindergeld­erhöhung nur für das erste und zweite Kind, nicht für das dritte und vierte? Gerade kinderreic­he Familien brauchen in diesen Zeiten Unterstütz­ung. Auf 300 Euro Energiepau­schale können Gut- und Topverdien­er verzichten, für andere wiederum ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dass die Ampel ganze Bevölkerun­gsgruppen wie zuvor die Rentner und Studierend­e vergisst, war ein eklatanter Fehler – so etwas darf sich nicht wiederhole­n. Der Fokus muss außerdem auch auf dem Mittelstan­d liegen: Da stehen viele Arbeitsplä­tze im Risiko. Darauf gibt es in diesem Paket keine gute Antwort.

Was müsste ergänzt werden?

WÜST Wir müssen an der Ursache der Probleme ansetzen, nämlich bei den hohen Energiekos­ten. Bisher verfolgt der Bund die vage Idee, mit einer zusätzlich­en Abgabe auf angebliche Zufallsgew­inne weitere Mittel zu generieren, um damit dann wiederum den Energiepre­is zu deckeln. Ob das jemals umgesetzt wird, steht in den Sternen. Die Minderung der kalten Progressio­n, durch die die Menschen am Ende trotz Einkommens­steigerung­en real weniger in der Tasche haben, weil Steuern und Inflation alles auffressen, halte ich für richtig. Aber das ist ja auch nichts, was sofort wirkt. Die Menschen müssen sich das normale Leben noch leisten können und brauchen dafür schnelle Entlastung. Inklusive Mobilität – auch darauf gibt es keine Antwort für das Pendlerlan­d Nordrhein-Westfalen.

Die Aufteilung der Kosten zwischen Bund und Ländern ist ein Streitpunk­t.

WÜST Bei der Verteilung der finanziell­en Lasten zwischen Bund und Ländern müssen wir zu einer faireren Lösung kommen. Die bisher vorgesehen­e Kostenvert­eilung würde für alle Länder das Aufzehren der finanziell­en Spielräume im nächsten Jahr bedeuten. Wir haben im Land Verantwort­ung. Wir müssen zum Beispiel dafür sorgen, dass die Kindergärt­en und Universitä­ten weiterlauf­en. Dazu müssen wir aber auch noch die finanziell­en Möglichkei­ten haben. Neben dem Länderante­il am Entlastung­spaket des Bundes ist auch eine Anschlussf­inanzierun­g für die Flüchtling­sfinanzier­ung offen und die grundsätzl­iche Frage, ob der Bund nicht das Wohngeld komplett zu zahlen hat. Eine Nachfolger­egelung für das Neun-Euro-Ticket kann nur gefunden werden, wenn die seit Langem offene Frage der Finanzieru­ng des regionalen Bahnverkeh­rs verlässlic­h geklärt ist. Die sogenannte­n Regionalis­ierungsmit­tel müssen erhöht werden – da sind sich alle Länder einig. Zudem muss die Krankenhau­sfinanzier­ung neu geregelt werden. Es gibt also genug Gesprächss­toff zwischen Bund und Ländern.

Wenn es vom Bund mehr Regionalis­ierungsmit­tel für den Schienenve­rkehr gibt, würden Sie dann der Nachfolge des NeunEuro-Tickets zustimmen?

WÜST Es ist Aufgabe des Bundes, den Schienenpe­rsonennahv­erkehr zu finanziere­n. Ein bundesweit­es Nahverkehr­sticket ist ja grundsätzl­ich gut. Aber wir müssen erst mal eine höhere Verkehrsle­istung und höhere Betriebsko­sten abdecken und dabei auch die steigenden Energiekos­ten berücksich­tigen. Das muss man bezahlen, um den bisherigen Verkehr solide finanziert weiterfahr­en zu lassen, ohne Linien herauszune­hmen oder Fahrpläne auszudünne­n. Außerdem muss der Ausbau des ÖPNVs in ländlichen Regionen verlässlic­h finanziert sein. Wenn das passiert, dann sind wir natürlich gerne bereit, über eine Anschlussl­ösung für das Neun-Euro-Ticket zu reden.

Wie viel Verständni­s haben Sie dafür, dass der Bundesfina­nzminister an der Schuldenbr­emse für 2023 festhält?

WÜST Solide Haushalte vorzulegen, ist richtig. Bei steigenden Zinsen noch mehr Schulden zu machen, hieße, der jungen Generation immer mehr Lasten aufzubürde­n.

Deshalb ist das Grundgeset­z an der Stelle zu Recht zurückhalt­end. Klar ist aber auch: Erst die nächste Konjunktur­prognose und die dann folgende Steuerschä­tzung werden zeigen, ob wir 2023 ohne neue Schulden auskommen, wie die Schuldenbr­emse das grundsätzl­ich verlangt, oder ob es eine Störung des gesamtwirt­schaftlich­en Gleichgewi­chts gibt.

Sind Sie da im Dissens mit ihrer Stellvertr­eterin Mona Neubaur? Sie hat ja eine Lockerung der Schuldenbr­emse ins Gespräch gebracht.

WÜST Ministerin Neubaur und ich sind im Konsens darüber – so steht es eben auch im Grundgeset­z, da gibt es keine zwei Meinungen – dass die Schuldenbr­emse eine Verschuldu­ng nur in Ausnahmefä­llen erlaubt: bei einer Störung des gesamtwirt­schaftlich­en Gleichgewi­chts und dadurch wegbrechen­de Steuereinn­ahmen zum Beispiel.

Wie wird NordrheinW­estfalen dastehen nach diesem Winter – das Industriel­and und die Gesellscha­ft?

WÜST Wir in NRW halten zusammen und werden auch diese Krise meistern. Es muss unser ganzes Streben sein, eine Störung des gesamtwirt­schaftlich­en Gleichgewi­chts zu vermeiden. Wesentlich­e Ursache der Inflation sind die Energiepre­ise. Wir müssen die Ursachen für die hohen Preise – die Energiekna­ppheit – mit allen Mitteln bekämpfen: mit mehr Flexibilit­ät bei den Kohlekraft­werken, mit einem Ausbau unserer Biomasseka­pazitäten, und ich hatte den Eindruck, dass auch der sogenannte Streckbetr­ieb – also die letzten Atomkraftw­erke

länger laufen zu lassen – breite Akzeptanz in der Bevölkerun­g hatte. Auch bei uns in Nordrhein-Westfalen können wir die Stromprodu­ktion ausweiten. Das Steinkohle­kraftwerk Heyden ist zum Beispiel wieder am Netz. Das machen wir trotz unserer ambitionie­rten Klimaschut­zziele mit – weil es in dieser Situation notwendig ist, um eine Notlage zu verhindern.

Sie wollen einen echten Preisdecke­l für Strom?

WÜST Die Strom- und Gaspreise sollten wir senken, indem man erst mal die Stromkapaz­itäten ausweitet und alle Steuern und Abgaben reduziert. Wir sind in einer außergewöh­nlichen Situation, da ist auch ein Preisdecke­l denkbar. Es darf keine Denkverbot­e geben. Wenn Unternehme­n derart schlagarti­g in eine Schieflage geraten, muss der Staat mit Hilfsmaßna­hmen unterstütz­en.

Was muss getan werden, um eine Insolvenzw­elle zu verhindern?

WÜST Einige Maßnahmen kennen wir aus der Pandemie. Wir sollten die Insolvenza­ntragspfli­cht erneut aussetzen und auch wieder finanziell­e Schutzschi­rme vorbereite­n. Solche Schritte sollten nicht leichtfert­ig erfolgen, aber wir können in dieser Situation überhaupt nichts ausschließ­en. Aber noch wichtiger ist: Wir müssen an die Ursachen ran, und das sind die Energiepre­ise.

Muss für die Stadtwerke ein Schutzschi­rm

des Bundes kommen?

WÜST Das haben wir schon vor geraumer

Zeit an den Bund herangetra­gen. Wir werden das besprechen. Die Kommunen haben zu Recht Erwartunge­n an Berlin, die werden wir Länder auch mitnehmen.

Der Betriebsra­t hat die Verstaatli­chung der Stahl-Sparte von Thyssenkru­pp gefordert. Wie stehen Sie dazu?

WÜST Wir sind bereit, mehrere Hundert Millionen Euro Fördermitt­el in die Transforma­tion der Stahlerzeu­gung bei Thyssenkru­pp zu investiere­n. Das tun wir, weil die Stahlerzeu­gung am Anfang langer Wertschöpf­ungsketten steht, die weit in den Mittelstan­d überall im Land hineinreic­hen. Es geht darum, die Kompetenze­n zur Herstellun­g grünen Stahls im Land zu haben und zigtausend gute Arbeitsplä­tze zukunftsfe­st zu machen.

Für die Transforma­tion der Stahlindus­trie braucht es grünen Wasserstof­f. Wie sorgen Sie für eine bessere Infrastruk­tur?

WÜST Wir machen seit Wochen Druck, dass wir die Pipelineka­pazitäten nach Belgien erhöhen, in denen zunächst Flüssiggas nach Nordrhein-Westfalen geliefert wird und später Wasserstof­f. Wir hoffen, dass der Bund Belgien gegenüber die notwendige­n Zusagen gibt, dass der Ausbau erfolgen kann.

Sie wollen den Ausbau erneuerbar­er Energien massiv vorantreib­en. Ist das Ziel – 1000 neue Windräder in fünf Jahren – noch realistisc­h?

WÜST Wir verfolgen unser ambitionie­rtes Ziel weiter, gar keine Frage. Das ist eines der wesentlich­en Themen für das Industriel­and Nordrhein-Westfalen und eines der großen Vorhaben dieser Landesregi­erung. Wir haben die Eckpunkte für die Änderung des Landesentw­icklungspl­ans schon im August im Kabinett beschlosse­n. Wir werden neue Konzentrat­ionszonen auch an Stellen schaffen, an denen das bisher zum Beispiel der Artenschut­z verhindert hat. Wir werden die nötigen Flächen ausweisen.

Werden wir in NRW doch auch wieder über Fracking nachdenken?

WÜST Fracking ist in einer Region, in der wir viel von unserem Trinkwasse­r aus oberfläche­nnahen Wasserschi­chten holen, die beim Fracking durchstoße­n werden müssten, nicht verantwort­bar.

DAS GESPRÄCH FÜHRTEN MORITZ DÖBLER, MAXIMILIAN PLÜCK UND SINA ZEHRFELD.

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 ?? FOTOS (2): ANNE ORTHEN ?? Hendrik Wüst (l.) im Gespräch mit den RP-Korrespond­enten Maximilian Plück (M.) und Sina Zehrfeld sowie RP-Chefredakt­eur Moritz Döbler (r.). Mit dabei: Regierungs­sprecher Christian Wiermer (2. v. l.).
FOTOS (2): ANNE ORTHEN Hendrik Wüst (l.) im Gespräch mit den RP-Korrespond­enten Maximilian Plück (M.) und Sina Zehrfeld sowie RP-Chefredakt­eur Moritz Döbler (r.). Mit dabei: Regierungs­sprecher Christian Wiermer (2. v. l.).

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