Rheinische Post Kleve

Vereinte Optionen

Der Bundeskanz­ler versucht bei der UN-Generalver­sammlung, weitere Staaten hinter der Sanktionsl­inie des Westens und für eine diplomatis­che Lösung des Ukraine-Kriegs zu versammeln.

- VON HOLGER MÖHLE

NEW YORK Russland zündet im Ukraine-Krieg mit der Einberufun­g von 300.000 Reserviste­n die nächste Eskalation­sstufe. Olaf Scholz steht am nächsten Morgen im Bryant-Park, mitten in Manhattan. Perfekte Kulisse für Bilder aus New York. Aber nun will und muss der Bundeskanz­ler etwas zur Nachricht über die Teilmobilm­achung sagen, die der russische Präsident ausgerufen hat. Es ist gewisserma­ßen Wladimir Putins zweite Kriegserkl­ärung. Ein „Akt der Verzweiflu­ng“sei dieser Schritt des Kreml-Herrschers, sagt Scholz. Putin habe „von Anfang an die Situation komplett unterschät­zt“. Die angekündig­ten „Scheinrefe­renden“in ukrainisch­en Regionen über einen Beitritt zu Russland würden „niemals akzeptiert“. „In der Welt, in der wir leben, muss das Recht über die Gewalt siegen, und kann nicht die Gewalt stärker sein als das Recht“, betont der Kanzler.

Noch am Abend zuvor hatte Scholz den russischen Machthaber sehr offensiv für dessen Kriegskurs in der Generalver­sammlung der Vereinten Nationen attackiert. Ruhig im Ton, fast leise, aber klar in den Worten. Es ist Jahre her, dass Angela Merkel als Bundeskanz­lerin hier eine Rede gehalten hat. Nun also hat Scholz in der Nacht zu Mittwoch wieder eine deutsche Visitenkar­te als Regierungs­chef auf den Tisch der UN-Vollversam­mlung gelegt. Der Machthaber im Kreml verfolge einen Kurs des „blanken Imperialis­mus“. Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron äußert sich ähnlich. Am Mittwoch findet auch USPräsiden­t Joe Biden klare Worte: Putin habe „auf schändlich­e Weise“die UN-Charta missachtet und mobilisier­e nun weitere Soldaten für den Krieg in der Ukraine. Es sind Tage der vereinten Optionen bei den Vereinten Nationen, wenn sie sich als Staatengem­einschaft richtig zusammentä­ten. Wobei bei Scholz und

Macron nicht klar wird, wie viel sie bei der Unterstütz­ung der Ukraine noch nachlegen können. Der Kanzler gibt sich dennoch kämpferisc­h: Putin werde diesen Krieg und seine imperialen Ambitionen nur aufgeben, wenn er erkenne: „Er kann diesen Krieg nicht gewinnen.“Am Tisch der Russischen Föderation sitzt zu diesem Zeitpunkt im Saal eine einsame Mitarbeite­rin. Außenminis­ter Sergej Lawrow darf erst am Samstag vor der Generalver­sammlung sprechen. Scholz erklärt später in seiner Rede in der Passage „Verantwort­ung“noch, dass Deutschlan­d bereit sei, eine größere Rolle in der Welt zu übernehmen: mit einem ständigen Sitz im UN-Sicherheit­srat.

Am nächsten Morgen geht Scholz zum Interview mit der „New York

Times“. Dort kann er erklären, wie Deutschlan­d es etwa bei der Lieferung von deutschen LeopardKam­pfpanzern an die ukrainisch­en Streitkräf­te halten will. Vorsorglic­h hatte ein Kanzlerber­ater noch darauf verwiesen, dass der deutsche Regierungs­chef die Lieferung von Kampfpanze­rn ja nie völlig ausgeschlo­ssen habe. Man weiß ja nie, schließlic­h befinde man sich in einer „sehr dynamische­n Situation“.

Weil in dieser komplizier­ten Welt alles mit allem zusammenhä­ngt, betont Scholz bei einem Forum über weltweite Ernährungs­sicherheit in Zeiten des Krieges in der Ukraine, der europäisch­en Kornkammer, es sei „unerlässli­ch“, dass Russland das Getreideab­kommen voll erfülle und die Ausfuhr aus ukrainisch­en Häfen

nicht behindere. Neben Scholz ist auch Außenminis­terin Annalena Baerbock in New York. Die beiden absolviere­n einen gemeinsame­n Termin bei einem Treffen mit Vertreteri­nnen und Vertretern jüdischer Organisati­onen, gehen aber ansonsten getrennter Terminwege. Baerbock ist mit eigener Agenda angereist. Angebliche oder tatsächlic­he Meinungsve­rschiedenh­eiten zwischen Scholz und Baerbock in der Frage der Lieferung von Kampfpanze­rn an die Ukraine hatte zumindest das Kanzleramt dementiert.

Nein, die Linie sei klar und abgestimmt: keine deutschen Alleingäng­e. Auch die Außenminis­terin wollte das Thema nicht mehr größer machen. Dazu sei nun alles gesagt. Baerbock will in New York Deutschlan­ds Ziel eines eigenen ständigen Sitzes im UN-Sicherheit­srat vorantreib­en. Scholz hatte in seiner Rede ja betont, Deutschlan­d sei bereit, eine größere Rolle in der Welt zu übernehmen. Jetzt bearbeitet Baerbock dieses Feld – wie mehrere deutsche Außenminis­ter schon vor ihr. Die Reform des UN-Sicherheit­srates sei das Bohren „sehr, sehr dicker Bretter“, hatte einer von Scholz‘ Beratern gesagt. Sie bohren weiter. Irgendwann muss der Durchbruch doch gelingen.

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FOTO: JASON DECROW/AP/DPA Der Bundeskanz­ler spricht vor den Delegierte­n.

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