Rheinische Post Kleve

Leben von Tag zu Tag

Die Menschen in Argentinie­n leiden unter der chronische­n Inflation. Im Juli 2022 lag die Teuerungsr­ate bei 71 Prozent gegenüber dem Vorjahresm­onat. Der Wertverlus­t zerreißt das Land gesellscha­ftlich.

- VON TOBIAS KÄUFER

BUENOS AIRES Wer überleben will, muss früh am Morgen aufstehen: Vater Damian und Sohn Ricardo setzen sich eine dicke Wollmütze auf, dazu eine wärmende Fließjacke. „Es ist kalt in Buenos Aires zu dieser Jahreszeit“, sagt Damian im südamerika­nischen Winter: „Und damit meine ich nicht nur das Wetter“. Eigentlich hat die Familie ein kleines Umzugsunte­rnehmen, doch das Geschäft läuft schlecht. Die Inflation hat das Land fest im Griff. Was die Deutschen erst seit ein paar Monaten beschäftig­t, ist für die Argentinie­r Alltag: Inflation. Seit Jahren, nur viel schlimmer. „Wir leben eigentlich nur noch von einem zum anderen Tag“, sagt Damian: „Wir schauen, dass wir die Tageseinna­hmen gleich umsetzen. Lebensmitt­el, Obst.“

Den kleinen Umzugswage­n nutzen sie am Abend für den Abtranspor­t der Ware. Tagsüber ziehen sie zu Fuß durch die Straßen und sammeln Papier und Pappe ein. Mit dem Auto wäre das zu teuer. Das teure Benzin. „Für ein Kilo gibt es 28 Pesos“, sagt Damian. Das sind nach offizielle­m Kurs ungefähr 20 Cent, nach inoffiziel­lem Kurs wären es etwa 40 Cent. Doch die Familie hat keine Dollar oder Euros, die sie auf der Straße tauschen könnte, sondern ist dem brutalen Werteverlu­st des argentinis­chen Pesos ausgesetzt. „Alles wird teurer. Der Sprit, der Strom, die Lebensmitt­el. Aber wir bekommen trotzdem nur 28 Pesos für ein Kilo Pappe. Ist sie feucht, ziehen sie etwas ab. Für uns ist also Regen richtig schlecht“, sagt Damian. Am Ende des Tages sind es zwölf Stunden, die sie auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs waren. Wie Hunderte andere Müllsammle­r, die ihren Karren mühsam über den Asphalt ziehen. Ein Kilo Brot kostet inzwischen etwa 400 Pesos – oder umgerechne­t: 14 Kilo Pappe, die sie mühsam zusammensu­chen müssen. Und nächste Woche schon könnten es 500 Pesos für ein Brot sein.

Ein paar Straßen weiter bekommt Kioskbesit­zerin Ana Maria die Konsequenz­en der Inflation doppelt zu spüren. „Die Preise steigen, jeden Tag. Aber wir nehmen nicht mehr ein“, sagt die Mutter: „Meine Familie macht das krank. Einige haben gesundheit­liche Probleme.“Die Abgaben, die Steuern, die Lebenshalt­ungskosten, das alles ist eigentlich nur noch zu stemmen, wenn man sich mit anderen zusammentu­t. Viele ihrer Kunden haben mindestens einen Zweitjob, um irgendwie über die Runden zu kommen: „Es geht um die einfache Frage: Reicht es noch für Käse oder Wurst zum Frühstück, oder gibt es nur noch Brot?“Einige fangen bereits an, zu tauschen, berichtet Maria: Kleidung oder Haushaltsw­aren gegen Lebensmitt­el.

Zwei Beispiele aus der Arbeitersc­hicht in Buenos Aires, die zeigen, wie sehr die Menschen in Argentinie­n unter der chronische­n Inflation leiden. Allein im Juli 2022 lag die Inflations­rate in Argentinie­n bei 71 Prozent gegenüber dem Vorjahresm­onat. Zum Vergleich: In Deutschlan­d lag sie im gleichen Monat bei 7,5 Prozent.

Der Wertverlus­t zerreißt das Land gesellscha­ftlich. Argentinie­n teilt sich in zwei Lager auf, deren charismati­sche Anführer unterschie­dlicher nicht sein könnten – und deren Züge nun aufeinande­r zufahren. Der eine: Arbeiterfü­hrer, Sozialakti­vist und stramm links: Juan Grabois. Wenn er die Armen zusammenru­ft, dann kommen leicht Tausende zusammen. Wie an diesem Morgen am „Puente Pueyrredon“, einer der wichtigen Verbindung­sbrücken zwischen dem Umland und der Stadt Buenos Aires. Grabois brüllt auf einem Pritschenw­agen stehend ins Mikrofon: „Was kann man denn mit 1000 Pesos heute noch kaufen?“Eine Frage, die sich Millionen Argentinie­r jeden Tag aufs Neue stellen.

Grabois könnte in den nächsten Monaten und bei der anstehende­n Präsidents­chaftswahl 2023 zu einer Schlüsself­igur werden. Der amtierende Präsident Alberto Fernández gilt als einer der glückloses­ten der letzten Jahrzehnte, musste zuletzt innerhalb von vier Wochen dreimal die Spitze des Wirtschaft­sministeri­ums austausche­n. Vizepräsid­entin Cristina Kirchner, ein Alphatier der Linken, wird von der Staatsanwa­ltschaft beschuldig­t, ein milliarden­schweres Korruption­snetzwerk anzuführen. Zwölf Jahre Haft stehen im Raum. Kirchner spricht von einer politische­n Kampagne gegen sich und mobilisier­t ihre Basis. Es kommt bisweilen zu ersten Straßensch­lachten. Die Opposition wirft Kirchner vor, bewusst Gewalt zu provoziere­n, um am Ende Opfer präsentier­en zu können. Grabois stellt sich hinter Kirchner und offen gegen Fernández. Auch das macht das Regieren im Krisenstaa­t nicht einfacher.

Auf der anderen Seite des politische­n Spektrums steht mit Javier Milei die derzeit wohl schillernd­ste Figur der argentinis­chen Politik. Er ist ein radikaler Marktliber­aler mit Rockmusike­r-Attitüde. Und seine Thesen ziehen vor allem die argentinis­che Jugend in ihren Bann, die in der Dauerkrise verzweifel­t eine Persönlich­keit sucht, die ihnen einen Ausweg aufzeigt. Die ihnen Hoffnung macht, dass es irgendwann mal vorbei ist mit der Inflation, der Korruption, der Aussichtsl­osigkeit, ein eigenes selbstbest­immtes Leben aufbauen und bezahlen zu können, wenn man keine reichen Eltern hat.

Milei ist Wirtschaft­swissensch­aftler, seine Popularitä­t beruht auf seinen Expertenei­nschätzung­en im Fernsehen. Meist drastisch, populistis­ch formuliert. Argentinie­n müsse den Dollar einführen, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion: „Im Grunde bestimmt ja jetzt der Dollar doch schon unser Leben.“Der Peso sei nur noch Abfall. Milei will das Land ganz neu organisier­en, den Staat radikal verschlank­en. „Argentinie­n hat 165 Steuern und 70.000 Vorschrift­en. Das heißt, eigentlich sind wir Sklaven“, sagt Milei beim Interview in seinem Haus im Großraum Buenos Aires. Für ihn bedeutet Marktliber­alität Freiheit und Chancen. Und immer mehr Argentinie­rinnen und Argentinie­r glauben ihm. In den Umfragen werden ihm gute Chancen eingeräumt, in die Stichwahl um das Präsidente­namt 2023 zu kommen.

Ganz anders sieht das sein Gegenspiel­er Grabois: Er will auf staatliche­r Ebene ein Mindestein­kommen durchsetze­n, um den akut Betroffene­n aus dem Elend zu helfen. „Ohne dieses Mindestein­kommen ist die Gesellscha­ft zutiefst ungerecht, sonst gibt es einen Sektor von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern, die keinen Schutz haben, und dann fallen sie in Argentinie­n nicht in Armut zurück, sondern geraten in extreme Armut, in Bedürftigk­eit“, sagt Grabois im Gespräch mit unserer Redaktion. Finanziert werden soll der Vorschlag durch Umverteilu­ng, im

Prinzip durch eine Übergewinn­steuer: „Nehmen Sie das eine Prozent heraus, die die großen Unternehme­n bilden, die immer in allen Krisen gewinnen. Und stellen Sie diese Mittel den ärmsten Sektoren der Gesellscha­ft zu Verfügung.“Auch Grabois bekommt mehr und mehr Zulauf, wird zu einer Art Ikone der Verzweifel­ten und Abgehängte­n in Argentinie­n. Er spricht ihre Sprache, marschiert bei Demos in der ersten Reihe und schämt sich nicht, die Mächtigen aus dem eigenen Lager zu attackiere­n.

So richtig ist noch nicht klar umrissen, was Grabois will. Für einen Vier-Personen-Haushalt liegen die Kosten für die sogenannte „Canasta Basica Alimentari­a“bei 100.000 Pesos, rechnet Moses vor. Bis zu dieser Summe müsste der Staat also das Einkommen aufstocken, damit der Lebensunte­rhalt der einkommens­schwachen Familien gesichert ist. Wertstoffs­ammler Damian müsste dafür 3500 Kilo Pappe sammeln. Die „Canasta Basica Alimentari­a“ist die rechnerisc­he Zusammenst­ellung eines Warenkorbs durchschni­ttlicher Güter und Dienstleis­tungen. Sie gilt als Gradmesser für die Lebenshalt­ungskosten. Und die kennt derzeit nur eine Richtung: steil nach oben.

Während die Politiker streiten, ist Gemüsehänd­ler Hugo im Ortsteil San Telmo mit der Alltagsrea­lität konfrontie­rt: „Die

Leute konsumiere­n weniger“, sagt er inmitten von Gurken, Paprika und Kartoffeln. Weniger Konsum bedeutet für ihn, weniger Umsatz, weniger Gewinn. Also sparen. Doch das geht eigentlich nicht. „Die Preise bei den Lieferante­n steigen auch, also muss ich die Ware teurer einkaufen, also werden Obst und Gemüse teurer.“Dafür werden die Armenspeis­ungen der Kirche immer voller. Ein paar Ecken weiter erzählt Ivana, wie sie das Leben meistert. Tagsüber geht sie putzen, meist vier fünf Stunden. „Damit bezahle ich die Miete“, sagt die Frau im grünen Parker: „Dann stelle ich mich auf den Markt und verkaufe Kleidung.“Meistens ist es Billigware, die geht am besten weg. Mit dem Erlös aus dem Verkauf zahlt sie die Nebenkoste­n der Werbung, das Schulgeld für den Sohn und kauft neue Waren ein. Verkauft sie ein Kleid, ist ein Stück Brot für den nächsten Tag drin. Am Ende arbeitet sie zwölf, 14 Stunden und weiß doch nicht, ob es am Ende reicht.

Argentinie­n ist in einer Spirale angekommen, aus der es scheinbar kaum einen Ausweg gibt. Die aktuelle Regierung Fernández hatte bei ihrem Wahlsieg Ende 2019 versproche­n, die Armut und den Hunger zu bekämpfen. Doch dann kam Corona, und Fernández machte sein Land komplett dicht. Trotzdem starben fast 130.000 Menschen, und die Wirtschaft schmierte ab. Für das Fernández-Lager trägt ein Milliarden­kredit, den die Vorgängerr­egierung des konservati­ven Präsidente­n Mauricio Macri aufnahm, Schuld an dem Debakel. Die Opposition wiederum wirft Fernández vor, die Wirtschaft des Landes ruiniert zu haben. Im nächsten Jahr müssen die Argentinie­rinnen und Argentinie­r darüber entscheide­n, wem sie mehr glauben. Bis dahin müssen sie durchhalte­n. Irgendwie.

 ?? ?? Vater Damian und Sohn Ricardo bei der Arbeit: Für ein Kilogramm gesammelte­r Pappe bekommen sie umgerechne­t rund 20 Cent.
Vater Damian und Sohn Ricardo bei der Arbeit: Für ein Kilogramm gesammelte­r Pappe bekommen sie umgerechne­t rund 20 Cent.
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FOTOS: TOBIAS KÄUFER Kioskbesit­zerin Ana Maria im Ortsteil Parque Patricios.
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Ivanna putzt und verkauft Kleidung.
 ?? ?? Aufsteigen­der Stern in der Politik: Javier Milei.
Aufsteigen­der Stern in der Politik: Javier Milei.
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Gemüsehänd­ler Hugo Martinez.

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