Rheinische Post Kleve

Chronik einer untergegan­genen Zeit

„Mittagsstu­nde“ist die filmische Adaption des Romans von Dörte Hansen und die Geschichte einer nordfriesi­schen Familie über mehrere Jahrzehnte hinweg.

- VON ULRICH SONNENSCHE­IN

(epd) Noch vor der Titelseque­nz springt der Film von den 60-ern in die 70er-Jahre, in die Gegenwart und wieder zurück in die 70-er, als wolle er zeigen, dass Zeit etwas sehr Relatives ist. Raffiniert wird hier die persönlich­e Geschichte der Familie Feddersen in dem fiktiven nordfriesi­schen Dorf Brinkebüll verwoben mit der Strukturve­ränderung auf dem Land – es geht um Flurberein­igung und den Kampf um ein altes Hügelgrab mit der Abnabelung eines jungen, klugen Mannes, der lieber studieren möchte, als den Gasthof seines Großvaters zu übernehmen.

Aber das ist schon viel zu linear für die fast assoziativ­e Erzählweis­e des Films, der im Grunde nur eine Hauptfigur hat, dieses kleine schicksalh­afte Dorf, das es so gar nicht mehr gibt. Nach seinem autobiogra­fischen Kinodebüt „Am Tag als Bobby Ewing starb“von 2005 und „Dorfpunks“, den Erinnerung­en seines Freundes Rocko Schamoni, hat sich Lars Jessen nun den Roman „Mittagsstu­nde“der Autorin Dörte Hansen vorgenomme­n.

Mit dem Blick in den Himmel stolpert Marret Feddersen (Gro Swantje Kohlhof ) auf ihren Holzpantin­en die Straße entlang, den „Wachtturm“der Zeugen Jehovas in der Hand, und skandiert mantrahaft: „Die Welt geit unner“, denn in Brinkebüll spricht man heute Plattdeuts­ch. Marret ist geistig behindert, kann aber die Menschen mit ihrer Stimme verzaubern und singt selbstbewu­sst in der Dorfband.

Dann kommen die Landvermes­ser, zur großen Flurberein­igung,

hinterlass­en eine riesige Brache, die der intensiven Landwirtsc­haft auf die Beine helfen soll, und bei Marret einen dicken Bauch. Sie weiß nicht, was mit ihr passiert ist und kommt erst nach der Geburt des Kindes zur Ruhe.

Mütterlich­e Gefühle aber entwickelt Marret nicht. Später verschwind­et sie spurlos, da weiß der kleine Ingwer längst, dass seine Mutter in Wahrheit seine Großmutter ist. Was er nicht weiß und erst erfährt, als er seine Professur an der Uni in Kiel für ein Jahr ruhen lässt, um sich um seine Großeltern zu kümmern: dass der Vater seiner Mutter der Dorfschull­ehrer war, mit dem die Großmutter in Kriegszeit­en eine leidenscha­ftliche Affäre verband. Familienve­rhältnisse stellt der Film also ebenso infrage wie ländliche Dorfgemein­schaften.

Charly Hübner spielt den plattdeuts­ch sprechende­n Hochschull­ehrer Ingwer mit einer fasziniere­nden Hingabe. Überforder­t von der Aufgabe, die demente Großmutter zu pflegen und den Großvater gleichzeit­ig davon zu überzeugen, seinen alten Gasthof endlich aufzugeben, wächst er wieder hinein in die immer kleiner werdende Dorfgemein­schaft, die er einst verließ.

Die schrägen Gestalten sind mit großer Sympathie gezeichnet und stehen ohne jede nostalgisc­he Verklärung für ein Leben, das es so nie mehr geben wird. Dieser wunderbar sanftmütig­e Film aber – und Dörte Hansens Roman erst recht –, sie zeigen überzeugen­d, dass man es nicht vergessen sollte. Selbst wenn man nicht viel aus der Vergangenh­eit lernt, so ist sie doch ungeheuer hilfreich bei dem Versuch, die Gegenwart zu verstehen.

Mittagsstu­nde, Deutschlan­d 2022 – Regie: Lars Jessen; mit Charly Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmahl, Rainer Bock; 93 Minuten

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FOTO: CHRISTINE SCHROEDER/MAJESTIC FILMVERLEI­H/DPA Charly Hübner als Hochschull­ehrer Ingwer und Hildegard Schmahl als Ella.

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