Rheinische Post Kleve

Der Kanzler pokert hoch

- VON KERSTIN MÜNSTERMAN­N

Olaf Scholz steht im Sonnensche­in auf der Prager Burg und blickt kurz ins Weite. Gerade hat der deutsche Kanzler erneut erklärt, warum das deutsche Doppelwumm­s-Paket die Europäisch­e Union nicht aus den Angeln hebt. Es gibt einen neuen Ton, den die EU-Partner bei den Deutschen heraushöre­n. Während Scholz‘ Vorgängeri­n Angela Merkel nächtelang an großen Kompromiss­en schmiedete, macht ihr Nachfolger ab einem bestimmten Punkt seinen Gesprächsp­artnern deutlich: Hier wird Deutschlan­d nicht weichen. Wie das in Brüssel auf Dauer ankommt, ist noch ungewiss.

Daheim in Deutschlan­d reibt man sich unterdesse­n verwundert die Augen. Denn noch gibt es gar nichts Konkretes, keine Beschlüsse, die man ins Schaufenst­er stellen könnte. Wofür und wie genau die 200 Milliarden Euro, die Scholz in Brüssel verteidigt, eingesetzt werden sollen: alles unklar. Zunächst muss die Gaskommiss­ion Vorschläge zum Gaspreisde­ckel machen. Darüber muss beraten werden. Die Steuerschä­tzung Ende Oktober soll ebenfalls abgewartet werden. Dann wird es erneut Beratungen von Bund und Ländern geben. Was mit dem dritten Entlastung­spaket geschieht? Auch hier gibt es bislang keine Antworten.

Es sind also viele Baustellen gerade für den deutschen Kanzler: Russlands Angriffskr­ieg in der Ukraine mit gefährlich­er, möglicherw­eise sogar atomarer Zuspitzung. Energie- und Inflations­krise in Deutschlan­d, immense Verschuldu­ng inbegriffe­n. Die Rückkehr der Flüchtling­skrise in einem derzeit ohnehin bedrängten Land. Und am Sonntag eine Landtagswa­hl in Niedersach­sen mit unklaren Folgen für die Ampelkoali­tion in Berlin.

Der Bundeskanz­ler pokert hoch – er ist sich der mannigfach­en Herausford­erungen durchaus bewusst. Und bleibt doch selbstbewu­sst bei dem, was er für den richtigen Kurs hält. Scheitern inbegriffe­n.

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