Was man noch sagen darf
Am Anfang steht ein berechtigtes Anliegen: unterdrückten Minderheiten gerechtere Teilhabe zu verschaffen und sie vor Angriffen und weiterer Diskriminierung zu schützen. Das ist eine Herausforderung für jede Gesellschaft, aber notwendig. Inzwischen gibt es in den USA allerdings Fälle wie den eines Kochmagazins, das ein jüdisches Rezept veröffentlichte – verfasst von einem nichtjüdischen Autor – und dadurch eine Empörungswelle auslöste, die das Magazin zu einer Entschuldigung nötigte. Oder den eines renommierten Naturwissenschaftlers, der nach Kritik an Quoten-Auswahlverfahren an Unis als Gastredner zu einem naturwissenschaftlichen Thema ausgeladen wurde.
Von solchen Beispielen berichtet René Pfister in seinem Buch „Ein falsches Wort“. Der USA-Korrespondent des „Spiegel“will damit nicht nur illustrieren, wie tief gespalten die amerikanische Gesellschaft ist. Und wie rigoros. Man kann Pfisters Buch auch als Mahnung an Deutschland lesen. Denn der Autor zeichnet nach, wie aus einer emanzipatorischen Bewegung in Teilen eine rigide Ideologie geworden ist, die nicht nur gesellschaftliches Miteinander unmöglich macht und Diskussionen verhindert. Auch die Bedeutung der Meinungsfreiheit ist in den USA nicht mehr selbstverständlich.
Das hat mit lange verfestigten Unterdrückungsmechanismen zu tun. Benachteiligte Gruppen wie Afroamerikaner oder Latinos haben nicht denselben Zugang zu öffentlichen Debatten wie etwa gebildete, weiße Männer. Sie kommen auch nicht gleichermaßen vor, was sich etwa zeigt, wenn der Disney-Konzern mal vorprescht, in einem Märchenfilm die Meerjungfrau durch eine schwarze Schauspielerin besetzt und damit ungläubige Begeisterung auslöst. Natürlich sind das oberflächliche Zugeständnisse an gesellschaftliche Vielfalt. Und so glauben nach Jahrzehnten diskriminierender Erfahrungen viele Aktivisten nicht mehr an langsamen Wandel, sondern wollen hartnäckige Machtstrukturen auch mit Macht brechen. Sie erklären die Privilegierten pauschal zu ihren Gegnern, machen sich mit immer größerem Eifer auf die Jagd nach tatsächlicher oder vermeintlicher Diskriminierung und ahnden sie durch Shitstorms.
Weil sich Macht auch darin zeigt, wer bestimmt, wie und über was gesprochen werden darf, ist die Sprache selbst längst zum Kampfplatz geworden – und so glauben manche Aktivisten auch, dass der freie Meinungsaustausch unter aktuellen Herrschaftsverhältnissen nur alte Privilegien zementiert. Wenn aber freie Diskurse nichts mehr gelten, kippt eine emanzipatorische Bewegung zum „Bürgerkrieg der Progressiven“. Und plötzlich müssen sich Kochbuchautoren fragen, welche Rezepte sie noch empfehlen können, ohne sich dem Vorwurf kultureller Aneignung auszusetzen. Natürlich bietet das Rechtspopulisten jede Menge Angriffsfläche.
Dieses Ringen wird auch in Deutschland brisanter. Laut einer AllensbachUmfrage sieht inzwischen fast die Hälfte der Deutschen die Meinungsfreiheit in Gefahr. Das mag mit den polarisierten Debatten der Corona-Zeit zusammenhängen, aber die Werte bei solchen Umfragen sinken seit Jahren und waren zuletzt auf dem mit Abstand niedrigsten Wert seit 1953 angekommen. „Das ist ein Echo des gesellschaftlichen Klimas“, sagt Thomas Petersen, Leiter der Umfrage. Selbstverständlich gelte die im Grundgesetz verankerte Meinungsfreiheit, niemand komme wegen unliebsamer Ansichten ins Gefängnis. Doch spürten immer mehr Menschen anscheinend einen Druck, bestimmte Dinge nicht mehr zu sagen.
Petersen meint, das habe mit einer Spaltung zu tun, die bisher zu wenig Beachtung finde: dem Auseinanderdriften zwischen Intellektuellen und Nicht-Akademikern. Die Intellektuellenwelt habe ein eigenes System von Werten, Normen, einer eigenen Sprache herausgebildet, die von Bürgern, die sich nicht in diesen Kreisen bewegen, nicht mehr geteilt werde. Symptomatisch dafür sei das Gendern und das Verpönen von Begriffen wie „Indianer“, „Zigeunerschnitzel“oder „Mohrenapotheke“. „Die Universitäten bewegen sich in einer akademischen Blase und fordern mit großer Intoleranz, dass alle diesen Sprachregeln folgen sollen“, sagt Petersen. Das sei eine Form, Macht auszuüben, und erzeuge Druck.
Einen großen Teil der Verantwortung dafür gibt Petersen den Massenmedien. Auch Journalisten bewegten sich oft in akademischen Zirkeln, verfolgten die Diskurse und übernähmen eine Sprache, die für Leute, die einfach reden wollten, wie sie es immer getan hätten, abschreckend wirke. „Ich nenne das eine Tyrannei der Minderheit“, sagt Petersen. Er glaubt, dass eine weitere Spaltung nur aufzuhalten sei, wenn auf der einen Seite akademische Eliten ihre Sprache überdächten. Auf der anderen Seite sollten sich aber auch Leute, die etwa dem Gendern nichts abgewinnen können, nicht so schnell einschüchtern lassen. „Warum darf man plötzlich nicht mehr ‚Indianer‘ sagen? Das verstehen viele Menschen nicht“, sagt Petersen: „Wer einfach spricht, wie er es von Kindheit an gelernt hat, hat ein Recht, unbelästigt zu bleiben.“
Pfister beschreibt für die USA, wie sich die politischen und intellektuellen Lager gegenseitig verachten – und mit negativer Energie versorgen. Das wirkt in den jeweiligen Lagern belebend, derweil sich die gesellschaftlichen Gräben vertiefen. Die nächsten Monate werden auch in Deutschland viel Gelegenheit bieten, gegenseitigen Respekt zu üben.
„Ich nenne das eine Tyrannei der Minderheit“Thomas Petersen Meinungsforscher