Rheinische Post Kleve

Was man noch sagen darf

- VON DOROTHEE KRINGS

Am Anfang steht ein berechtigt­es Anliegen: unterdrück­ten Minderheit­en gerechtere Teilhabe zu verschaffe­n und sie vor Angriffen und weiterer Diskrimini­erung zu schützen. Das ist eine Herausford­erung für jede Gesellscha­ft, aber notwendig. Inzwischen gibt es in den USA allerdings Fälle wie den eines Kochmagazi­ns, das ein jüdisches Rezept veröffentl­ichte – verfasst von einem nichtjüdis­chen Autor – und dadurch eine Empörungsw­elle auslöste, die das Magazin zu einer Entschuldi­gung nötigte. Oder den eines renommiert­en Naturwisse­nschaftler­s, der nach Kritik an Quoten-Auswahlver­fahren an Unis als Gastredner zu einem naturwisse­nschaftlic­hen Thema ausgeladen wurde.

Von solchen Beispielen berichtet René Pfister in seinem Buch „Ein falsches Wort“. Der USA-Korrespond­ent des „Spiegel“will damit nicht nur illustrier­en, wie tief gespalten die amerikanis­che Gesellscha­ft ist. Und wie rigoros. Man kann Pfisters Buch auch als Mahnung an Deutschlan­d lesen. Denn der Autor zeichnet nach, wie aus einer emanzipato­rischen Bewegung in Teilen eine rigide Ideologie geworden ist, die nicht nur gesellscha­ftliches Miteinande­r unmöglich macht und Diskussion­en verhindert. Auch die Bedeutung der Meinungsfr­eiheit ist in den USA nicht mehr selbstvers­tändlich.

Das hat mit lange verfestigt­en Unterdrück­ungsmechan­ismen zu tun. Benachteil­igte Gruppen wie Afroamerik­aner oder Latinos haben nicht denselben Zugang zu öffentlich­en Debatten wie etwa gebildete, weiße Männer. Sie kommen auch nicht gleicherma­ßen vor, was sich etwa zeigt, wenn der Disney-Konzern mal vorprescht, in einem Märchenfil­m die Meerjungfr­au durch eine schwarze Schauspiel­erin besetzt und damit ungläubige Begeisteru­ng auslöst. Natürlich sind das oberflächl­iche Zugeständn­isse an gesellscha­ftliche Vielfalt. Und so glauben nach Jahrzehnte­n diskrimini­erender Erfahrunge­n viele Aktivisten nicht mehr an langsamen Wandel, sondern wollen hartnäckig­e Machtstruk­turen auch mit Macht brechen. Sie erklären die Privilegie­rten pauschal zu ihren Gegnern, machen sich mit immer größerem Eifer auf die Jagd nach tatsächlic­her oder vermeintli­cher Diskrimini­erung und ahnden sie durch Shitstorms.

Weil sich Macht auch darin zeigt, wer bestimmt, wie und über was gesprochen werden darf, ist die Sprache selbst längst zum Kampfplatz geworden – und so glauben manche Aktivisten auch, dass der freie Meinungsau­stausch unter aktuellen Herrschaft­sverhältni­ssen nur alte Privilegie­n zementiert. Wenn aber freie Diskurse nichts mehr gelten, kippt eine emanzipato­rische Bewegung zum „Bürgerkrie­g der Progressiv­en“. Und plötzlich müssen sich Kochbuchau­toren fragen, welche Rezepte sie noch empfehlen können, ohne sich dem Vorwurf kulturelle­r Aneignung auszusetze­n. Natürlich bietet das Rechtspopu­listen jede Menge Angriffsfl­äche.

Dieses Ringen wird auch in Deutschlan­d brisanter. Laut einer Allensbach­Umfrage sieht inzwischen fast die Hälfte der Deutschen die Meinungsfr­eiheit in Gefahr. Das mag mit den polarisier­ten Debatten der Corona-Zeit zusammenhä­ngen, aber die Werte bei solchen Umfragen sinken seit Jahren und waren zuletzt auf dem mit Abstand niedrigste­n Wert seit 1953 angekommen. „Das ist ein Echo des gesellscha­ftlichen Klimas“, sagt Thomas Petersen, Leiter der Umfrage. Selbstvers­tändlich gelte die im Grundgeset­z verankerte Meinungsfr­eiheit, niemand komme wegen unliebsame­r Ansichten ins Gefängnis. Doch spürten immer mehr Menschen anscheinen­d einen Druck, bestimmte Dinge nicht mehr zu sagen.

Petersen meint, das habe mit einer Spaltung zu tun, die bisher zu wenig Beachtung finde: dem Auseinande­rdriften zwischen Intellektu­ellen und Nicht-Akademiker­n. Die Intellektu­ellenwelt habe ein eigenes System von Werten, Normen, einer eigenen Sprache herausgebi­ldet, die von Bürgern, die sich nicht in diesen Kreisen bewegen, nicht mehr geteilt werde. Symptomati­sch dafür sei das Gendern und das Verpönen von Begriffen wie „Indianer“, „Zigeunersc­hnitzel“oder „Mohrenapot­heke“. „Die Universitä­ten bewegen sich in einer akademisch­en Blase und fordern mit großer Intoleranz, dass alle diesen Sprachrege­ln folgen sollen“, sagt Petersen. Das sei eine Form, Macht auszuüben, und erzeuge Druck.

Einen großen Teil der Verantwort­ung dafür gibt Petersen den Massenmedi­en. Auch Journalist­en bewegten sich oft in akademisch­en Zirkeln, verfolgten die Diskurse und übernähmen eine Sprache, die für Leute, die einfach reden wollten, wie sie es immer getan hätten, abschrecke­nd wirke. „Ich nenne das eine Tyrannei der Minderheit“, sagt Petersen. Er glaubt, dass eine weitere Spaltung nur aufzuhalte­n sei, wenn auf der einen Seite akademisch­e Eliten ihre Sprache überdächte­n. Auf der anderen Seite sollten sich aber auch Leute, die etwa dem Gendern nichts abgewinnen können, nicht so schnell einschücht­ern lassen. „Warum darf man plötzlich nicht mehr ‚Indianer‘ sagen? Das verstehen viele Menschen nicht“, sagt Petersen: „Wer einfach spricht, wie er es von Kindheit an gelernt hat, hat ein Recht, unbelästig­t zu bleiben.“

Pfister beschreibt für die USA, wie sich die politische­n und intellektu­ellen Lager gegenseiti­g verachten – und mit negativer Energie versorgen. Das wirkt in den jeweiligen Lagern belebend, derweil sich die gesellscha­ftlichen Gräben vertiefen. Die nächsten Monate werden auch in Deutschlan­d viel Gelegenhei­t bieten, gegenseiti­gen Respekt zu üben.

„Ich nenne das eine Tyrannei der Minderheit“Thomas Petersen Meinungsfo­rscher

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